„Kein Wunder, dass Sie so fröhlich sind", sagte sie, bevor sie merkte, dass er ihren Kommentar vielleicht nicht so scherzhaft auffassen würde, wie er eigentlich gemeint war.
„Soll das ein Scherz sein? Das bin ich in meiner charmantesten Form", sagte er und war offensichtlich nicht beleidigt.
„Okay, solange ich Sie in der Ihrer Meinung nach guten Laune antreffe, kann ich Ihnen dann noch eine weitere beleidigende Frage stellen?“
„Schießen Sie los", sagte er. „Ich habe mich inzwischen daran gewöhnt."
„Vier Entführungen. Nicht eine einzige Spur zur Identität des Entführers. Und doch gelang jeder Frau die Flucht. Erscheint es nicht seltsam, dass ein Täter, der diese Frauen so geschickt entführt hat, so unfähig ist, sie festzuhalten?"
„Das tut es", sagte Sands und gab keinen weiteren Kommentar ab.
„Kann ich aufgrund Ihres Schweigens davon ausgehen, dass Sie genauso skeptisch sind wie ich, dass eine dieser Frauen tatsächlich aus eigener Kraft 'entkommen' ist?
„Das können Sie", sagte Sands. „Auch, wenn nicht alle mit mir übereinstimmen, habe ich das Gefühl, dass dieser Typ – und wir wissen, dass es ein Typ ist – seinen Opfern die Flucht ermöglicht hat.“
„Was macht Sie da so sicher?“, fragte Jessie.
„Abgesehen davon, dass es äußerst unwahrscheinlich erscheint, dass derselbe Mann, der sich all diese Frauen geschnappt hat, ohne dabei erwischt zu werden, sie unachtsam festhalten würde, gibt es noch etwas Anderes.“
„Und was ist das?"
„Wir haben die Orte gefunden, an denen er jede Frau festgehalten hat. In keinem Fall gab es nicht eine einzige Spur brauchbarer DNA. Es gab keine Fingerabdrücke. Es gab keinerlei belastende Beweise irgendwelcher Art. Das ist, wie Sie wissen, unter allen Umständen schwer nachvollziehbar. Aber fast unmöglich, wenn er hätte schnell aufräumen müssen, nachdem er bemerkt hatte, dass die Frauen entkommen waren.“
„Aber nicht, wenn er sie gehen hat lassen", sagte Jessie.
„Korrekt", stimmte Sands zu. „Wenn er sie zu einem von ihm gewählten Zeitpunkt entkommen ließ, hätte er Zeit gehabt, um nach ihrer Flucht aufzuräumen. Ich vermute, er war von dem Moment an vorsichtig, als er sie zu den Orten brachte, wo er sie festhielt, da er wusste, dass sie schließlich entdeckt und gründlich durchsucht werden würden.“
„Warum sollte er das tun?“, fragte Jessie. „Warum das Risiko eingehen, sie gehen zu lassen, wenn sie ihn später vielleicht identifizieren könnten?"
„Vergessen Sie nicht, dass ihnen allen die Augen verbunden waren."
„Aber das waren sie nicht, als er sie entführte."
„Nein", räumte er ein. „Aber die ersten drei entführten Frauen waren sich alle sicher, dass er eine aufwendige Verkleidung trug."
„Trotzdem konnten sie seine Größe, sein Gewicht und seine ethnische Zugehörigkeit einschätzen. Vielleicht könnten sie seine Stimme identifizieren."
„Alles wahr", sagte Sands.
„Ich habe das Gefühl, dass hier mehr vor sich geht, als man auf den ersten Blick sieht", sinnierte Jessie.
„Ich auch", stimmte Sands zu. „Leider habe ich keine Ahnung, was."
KAPITEL SECHS
Jessie lehnte sich weit aus dem Fenster.
Nur weil sie keine aktiven Fälle hatte, hieß das nicht, dass Captain Decker froh wäre, dass sie in Brentwood war, um einen Fall zu untersuchen, mit dem sie nichts zu tun hatte. Und doch war es genau das, was sie tat.
Caroline Gidley, das Opfer, das letzte Nacht gefunden worden war, war bewusstlos und nicht in der Lage zu sprechen. Kommissar Sands hatte sie gewarnt, dass Jayne Castillo, das dritte Opfer, nicht befragt werden wollte. Und da Kats Klientin, Morgan Remar, nicht in der Stadt war, blieb nur noch eine Person zum Reden übrig.
Als sie Sands fragte, ob es ein Fehler wäre, zu versuchen, mit dem ersten Opfer, Brenda Ferguson, zu sprechen, sagte er ihr, dass die Kommissare des Polizeireviers von West LA nicht gerade erfreut darüber sein würden. Aber er hatte sie auch ganz bewusst nie gebeten, dies nicht zu tun. Sogar in ihrer beschränkten Erfahrung mit ihm bekam Jessie das Gefühl, dass dies wohl eine Art Startschuss war.
Ryan hatte sich großzügig bereit erklärt, sich auf dem Revier für sie einzusetzen, um ihre Abwesenheit vor Captain Decker geheim zu halten. Kurz bevor sie zum Haus der Fergusons fuhr, sprach sie mit ihm.
„Was gibt’s Neues?", fragte sie.
„Decker ist so in die Folgen des Überfalls der Sittenpolizei vertieft, dass er nicht mal bemerkt hat, dass du nicht hier bist."
„Ich weiß nicht, ob ich mich erleichtert oder beleidigt fühlen soll", antwortete sie.
„Falls es ein Trost ist, ich vermisse dich", sagte Ryan.
Bewaffnet mit dieser Gewissheit stieg sie aus und machte sich auf den Weg zum Haus. Sie hatte vorher nicht angerufen, aus Angst, Ferguson könnte Rücksprache mit den Kommissaren des Falls halten. Außerdem stellte sie oft fest, dass sie nützlichere Informationen erhielt, wenn sie einen Zeugen, einen Verdächtigen oder sogar ein Opfer überraschte. Sie hatten nicht so viel Zeit, ihre Gedanken zu sortieren und nützliche Informationen wegzulassen.
Das Haus war beeindruckend, wenn auch bei weitem nicht so prunkvoll wie einige andere in der von Bäumen gesäumten Straße. Es war ein zweistöckiges Haus im spanischen Stil, das sich weit über das große Grundstück hinaus erstreckte. Allein der Vorgarten bot Platz für ein zweites Haus. Sie klopfte an die Tür und musste gut sechzig Sekunden warten, bis ein Mann um die dreißig mit misstrauischem Gesichtsausdruck aufmachte.
„Kann ich Ihnen helfen?", fragte er zurückhaltend.
„Ich hoffe es. Ich nehme an, Sie sind Frau Fergusons Ehemann?"
„Ja. Ich bin Ty."
„Hi, Ty", sagte Jessie mit ihrer wärmsten, wenig einschüchternden Stimme. „Ich bin Jessie Hunt. Ich arbeite als Kriminalprofilerin für das LAPD. Ich weiß, dass Brenda eine Menge durchgemacht hat. Aber ich hatte gehofft, kurz mit ihr sprechen zu können. Ich versuche, ein Profil des Mannes zu erstellen, der sie entführt hat, und die Akte des Falls gibt nicht so viel her. Aus Rücksicht auf das, was sie durchgemacht hat, habe ich so lange wie möglich gewartet. Aber ein persönliches Gespräch mit ihr wäre äußerst hilfreich.“
Sie war nicht gerade begeistert davon, ihre erste Einführung mit Notlügen machen zu müssen. Aber sie brauchte einen Einstieg und das schien ihr der effektivste Weg zu sein. Ty knallte ihr nicht die Tür vor der Nase zu, aber er sah immer noch zurückhaltend aus.
„Hören Sie", sagte er leise und blickte dabei zurück über die Schulter. „Ich weiß, dass Sie nur Ihren Job machen. Aber Brenda hat so viel durchgemacht. Sie schläft erst seit kurzem wieder durch. Ich mache mir Sorgen, dass dadurch all die Wunden wieder aufbrechen könnten."
Jessie spürte, dass seine Widerspenstigkeit kurz davor war, seine guten Absichten zu überwältigen, und beschloss, dass es jetzt an der Zeit war, offener zu sein.
„Ich kann nicht versprechen, dass das nicht passieren wird, Ty. Aber ich versuche herauszufinden, wer dieser Typ ist, damit er niemanden mehr verletzen kann. Ich weiß nicht, ob Sie sich dessen bewusst sind, aber ein viertes Opfer wurde gestern Abend entdeckt."
„Nein", sagte Ty, seine Augen weiteten sich.
„Ja, sie ist im Krankenhaus. Sie hat ein gebrochenes Bein, nachdem sie nach vier Tagen aus einem Hundezwinger entkommen konnte. Offen gesagt gibt es keine Anzeichen dafür, dass dieser Typ in absehbarer Zeit aufhören wird. Ich hoffe, dass wir ihn mit Brendas Hilfe finden können, bevor er sich eine fünfte Frau sucht."
Ty sah immer noch hin- und hergerissen aus, aber Jessie merkte, dass er nun dazu tendierte, sie hereinzulassen. Er blickte ein zweites Mal in den Flur zurück.
„Warten