Deshalb unternahm ich meine Kletterabenteuer heimlich. Ich schlich nach oben und gab acht, dass die Holzsprossen unter meinen Füßen nicht knarzten. Und die Katzen? Sie setzten zum Sprung an die Wand an. Ihre Krallen kratzten leise auf den Mauerwölbungen. Dann stürzten sie mit klagendem Miauen zurück auf den Boden. Nur den Geschicktesten gelang es, nachts nach oben zu klettern. Ein paar Tauben mussten daran glauben: Am Morgen fand Papa sie voller Blut, mit aufgerissenen Hälsen. Den Tod, dieses Ungeheuer, versteckten die Erwachsenen vor mir wie die Schlange ihre Beine. Sie vergruben die toten Tauben im Garten und bedeckten die frisch umgegrabene Erde mit Laub.
Im Morgengrauen füttert Papa die Tauben mit verschiedenen Körnern. Er macht das Wasser frisch, sie trinken und fliegen mit nassen Schnäbeln in die Wolken. Alle brechen zur selben Zeit auf: sie in die Freiheit, und Papa zur Post, auf die Arbeit. Mich wecken Nanas Stimme und der Duft nach Essen. Nana läuft unentwegt umher,alte Radio dudelt leise. Nana singt; so könne sie schneller und besser arbeiten, sagt sie. Während sie das Mittagessen auf dem Herd umrührt, das Waschbecken scheuert oder den Staub vom Nachttisch wischt, reiht sich ein Lied an das andere – so verbindet meine Oma meisterhaft das Leben als Hausfrau mit dem Traum eines Lebens als Sängerin.
Ich frühstücke im Schlafanzug. Meine Augen sind voller Schlaf und tun weh. Auf dem Kupfertablett trage ich zwei geschmierte Brote in mein Zimmer. Ich setze mich aufs Bett, stecke die Beine unter die Bettdecke, stelle das Tablett vor mich und beiße große Stücke Brot ab. Ich kaue langsam und schaue durchs Fenster. Danach ziehe ich mich vor dem Zimmerspiegel an. In den Rahmen ist eine Fotografie geklemmt. Darauf lächelt mich Papa in seiner blauen Arbeitskleidung an. In den Händen hält er Kabel und Zange. Papa richtet Telefonverbindungen ein, er bringt Stimmen zueinander. Ähnlich wie Tauben im Flug verschiedene Welten verbinden. Die Socken ziehe ich im Laufen an. Ein massiver Steintisch wartet im Garten auf mich. Ich lege mich darauf, breite meine Flügel aus und suche mit dem Blick die Tauben. Die Hochflieger durchbrechen die Wolken, während sich die Purzler und Roller bis zur Bewusstlosigkeit drehen. Stunden vergehen. Meine Augen sind fest auf den Himmel da oben geheftet. Dort, wo angeblich jene leben, die es nicht mehr gibt.
Als ich einen Falken erspähe, werde ich panisch. Ich springe auf, rudere mit den Armen, pfeife und schreie, aber meine Stimme ist da oben in den Höhen nicht zu hören. Schnell gehe ich Nana und Dedo holen.
„Der Falke frisst eine Taube!“, schreie ich. Dedo eilt aus der Garage herbei, Nana kommt die Treppe herunter. Ich klatsche in die Hände. Nana ruft „Ksch!“ in Richtung Falke. Die Verfolgungsjagd am Himmel geht gut aus für die Tauben. Dedo verflucht die Vögel, die Federn, die Taubenscheiße… Dann fragt er Nana, wie spät es ist. Während er zurück in die Garage geht, wirft sie ihm hinterher: „Er kommt bestimmt gleich.“
Als die Sonne im Westen sinkt, gehe ich ins Haus. In der Luft verdampft der Geruch nach Essen. Das Radio ist aus. Die Wanduhr schnalzt.
Durchs Fenster stehlen sich Schatten herein. Ich schiebe den Vorhang auf und luge in Richtung Taubenschlag. Nur Miki ist da. Sie ist eine Felsentaube. Hervorragende Fliegerin! Beim Laufen watschelt sie ein bisschen. Ungefähr so wie Papa wankt, wenn er nachts nach Hause kommt.
„Siehst du, wie spät es ist, und er ist immer noch nicht da“, setzt Dedo an.
„Er kommt gleich.“
„Das hast du vor drei Stunden auch schon gesagt.“
„Vielleicht musste er länger arbeiten.“
„Der ist hundertpro in der Kneipe. Jede Nacht das Gleiche.“
Auch die Stille hat ihre Stimme.
„Eh, der kommt mir heute nicht ins Haus.“
„Red keinen Unsinn“, sagt Nana.
Die Schatten quellen auf. Mit ihnen schleiche ich mich wie eine Katze nach draußen. Die Tür des Taubenschlags steht noch immer offen. Schritt für Schritt klettere ich die Leiter hoch. Auf die erste Sprosse, die zweite, die dritte … Oben ist es still. Und man kann besser sehen. Dort stehe ich und warte auf die Rückkehr der Tauben.
Vergeblich weckst du sie
Bestimmt hatte sie gesagt: Soll er mich doch suchen
und sehen, dass ich nicht da bin
diese Frau mit den Kinderhänden, die ich liebe
dieses Kind, das eingeschlafen ist
ohne sich die Tränen abzuwischen, ich wecke es vergeblich
vergeblich, vergeblich
vergeblich wecke ich sie
Branko M. *
Ich liege im Bett, halte die Lider fest verschlossen, die Wimpern kitzeln mich. Ich versuche die Pupillen zu entspannen. Tue so, als ob ich schlafe. Ich tue so, als müsste ich den Lärm nicht hören, der gleich in der Küche losbricht. Ich weiß, was gleich passiert. Wenn er betrunken nach Hause kommt, wird Dedo herumschreien, Nana wird weinen und meine Tante sich in ihre Welt flüchten. Hinter meinen Lidern ist es schwarz wie am weiten, verschorften Himmel, an dem die nie erfüllten Wünsche trocknen. Geschrei! Da war es. Und geht vorbei. Die Wut ergießt sich in Schritte. Wütend knarren die alten Dielen des Hauses in Vratnik. Dann kommt die Stille und mit ihr ein paar Schritte: Unbeholfen halten sie vor meiner Zimmertür inne. Los, komm schon rein, denke ich, während ich weiter meine Pupillen bändige.
Wir liegen auf dem Rücken. Auf den Kissen verschränkte kleine und große Hände. Darauf betten wir unsere Köpfe. Du weckst sie. Langsam sprichst du von deiner toten Frau, deiner schönen Frau. Zwischendurch fällt dir ein, dass ich mich ja nicht an sie erinnern kann, dann wirst du konkreter in deinen Beschreibungen, lang und breit. Und wie jedes Mal ziehst du aus dem Kleiderschrank, in dem immer noch ihre Sachen hängen, einen Rock nach dem anderen. Einen dunkelblauen, einen weißen, einen olivgrünen … Du nimmst sie mit den Fingerspitzen, die den Saum halten wie Wäscheklammern, breitest sie aus und faltest sie wieder zusammen, schaust sie dir an, und wie zwanghaft streichst du jeden von ihnen mit der rechten Hand glatt, wahrscheinlich um den Staub abzuwischen. Ich werde da nie hineinpassen, das sage ich aber nicht.
Du redest immer noch von ihr. Von deiner toten Frau, deiner schönen Frau. Es ist spät. Deine Stimme wird immer leiser. Die Worte zerfallen dir auf der Zunge. Du lallst, verlierst den Faden. Du bist das Kind, das einschläft, ohne sich die Tränen abzuwischen. Ich schaue dich an, während du schläfst. Noch ist mir nicht klar, dass ich dich eines Tages hassen werde. Nicht deinetwegen, das nicht. Du warst eine Rotznase, verwöhnt, verweint, verloren. Hassen werde ich dich wegen all der anderen, die herumbrüllen und zetern. Die dich auf der Straße beschimpfen, während du sie weckst. Hassen werde ich dich wegen der anderen Kinder, die ihre Blicke schlecht verstecken, die sich beim Murmelspielen gegenseitig anstupsen und zwicken und kaum hörbar kichern, sobald am Ende der Straße dein schwankender Körper auftaucht.
Das Zimmer füllt sich mit R-OH-Atomen wie die Küste mit Wasser, wenn die Kraft des Mondes nachlässt. Der Name meiner Mutter riecht nach Alkohol. Ich atme ihn gleichmäßig ein und starre dabei an die Decke. Die Tauben schlafen im Verschlag.
Ein paar Jahre später werden wir das Zimmer vernichten. Selber die Tapete ablösen und dann einen Maler bestellen, der die Wände abkratzt, bis sie nackt sind. Ich werde alles gründlich sauber machen, einen 30-Liter-Eimer mit Schutt beladen und ihn kaum zum Container ziehen können. Wenn ich die Straße hinabgehe, werde ich zum letzten Mal den Geruch deiner Tränen in der Nase haben. Während ich mich zum Müllplatz schleppe, werde ich uns wieder vor mir sehen, wie wir mit den Händen auf den Kissen daliegen, wie früher. Wie wir zur Decke schauen und du sie weinerlich weckst. Sie, deine tote Frau, deine schöne Frau. Aber dann werde ich bereits wissen: Ich hasse dich.
Ich hasse dich, weil der Himmel weit und verschorft ist – und du daran so absolut gar nichts ändern kannst.
Weiße Wüste