Für Thomas und Sabine
Helga Dreher
DAS TORHAUS
Eine mysteriöse Erbschaft mit Folgen
Roman
Die Handlung und die darin agierenden Personen sind frei erfunden.
Das Torhaus befindet sich in Weimar an der beschriebenen Stelle.
© Bertuch Verlag Weimar GmbH 2010
2. Auflage 2020 mit freundlicher Genehmigung des Bertuch Verlags Weimar GmbH
Titelfoto: Astrid Rippke
Umschlaggestaltung: Eckehard Werner, Thomas Dreher
Verlag und Druck: tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg
ISBN
978-3-7497-2213-6 (Paperback)
978-3-7497-2215-0 (E-Book)
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MAI
KAPITEL 1
„Sind Sie sicher, dass Sie hierher wollten?“ Der Taxifahrer nickte in Richtung des Gebäudes und schaute sie zweifelnd an. Alma verstand sofort, was er meinte. Aus dem Seitenfenster des Taxis sah sie eine mit Graffiti besprühte Hauswand, die in der Nachmittagssonne schmutzigsilbern glänzte.
„Ich denke schon“, antwortete Alma, zog ihre Geldbörse heraus und zahlte. Sie fand den Taxifahrer sympathisch und seine fürsorgliche Bemerkung rührend. Während der Fahrt war sie nicht auf seinen Versuch eingegangen, ein Gespräch zu führen. Sie glaubte zu wissen, worauf es hinauslaufen würde: das Wetter, die Benzinpreise, die Baustellen oder Umleitungen … Darauf hatte sie keine Lust gehabt. Oder war sie vielleicht aufgeregt gewesen? Ein wenig tat es ihr jetzt leid um das verpasste Gespräch, das möglicherweise einen nicht uninteressanten Einblick in die Befindlichkeit der Stadt oder der Städter gegeben hätte.
„Danke, und einen schönen Aufenthalt in Weimar!“ Der Taxifahrer machte mit der Hand eine kurze Bewegung zur Stirn, die sie eher von einem Matrosen erwartet hätte. Aber andererseits, er war ja eine Art Fahrensmann, der Taximensch. Alma bat ihn, mehr aus einem Impuls des Freundlichseinwollens als tatsächlicher Notwendigkeit, um seine Karte – für eventuell sich nötig machende weitere Beförderungen. „Und einen schönen Tag noch für Sie, mit vielen Fahrgästen!“, fügte sie ein wenig durcheinander und, so fand sie, eigentlich unnötigerweise hinzu.
Nun stand sie auf dem Bürgersteig unmittelbar neben dem Haus, „ihrem Haus“, wie sie für einen kurzen Moment dachte. Sekundenlang wiederholte sich der Anfall von Unsicherheit vor dem, was da auf sie zukam.
Kurz vor dem Ziel hatte der Taxifahrer gemeint, er könne sie nicht an der Haustür, die sich direkt neben einer Ampel befände, absetzen, das wäre ungefähr wie ein Halt in der Poleposition bei der Formel 1. Er werde sie um den Stock fahren, zum Busbahnhof, der eigentlich eine Straße sei, und sie könne dann hinter dem Haus aussteigen. „Um den Stock …“, hatte Alma in sich hinein gelächelt, wie früher in Neustadt bei Oma und Opa. Nur war man damals um den Stock gelaufen, ein Auto hatten die Großeltern nie besessen.
Alma ging auf das kleine Haus zu, ihren Rollkoffer hinter sich herziehend. Die Seitenfront, vor der sie eben ausgeladen worden war, bot einen bedauernswerten Anblick. Die Wand war bis über Augenhöhe mit silberner und schwarzer Farbe besprüht. Zwei Fenster mit viergeteilten, vor Schmutz fast undurchsichtigen Scheiben hingen unsicher in den Maueröffnungen, eine der kleinen Scheiben war eingeschlagen und mit Presspappe hintersetzt. An mehreren Stellen zeigte der Putz große, tiefe Löcher. Als Alma mit ihrem Koffer auf der Suche nach der Eingangstür um die Hausecke bog, fand sie sich unmittelbar an besagter Ampel wieder, die eine offensichtlich stark befahrene Kreuzung regelte. In Zweierreihe standen Autos an, mehrere Fußgänger warteten auf der anderen Seite, einige davon mit wachsender Ungeduld. Die Autos bekamen Grün, fuhren an und versahen Alma mit einer kräftigen Dusche aus Pfützenwasser.
„Oh, shit“, murmelte sie. Ihr hellgrauer Trenchcoat sollte sie eigentlich während ihres gesamten Aufenthaltes in Weimar sauber bemänteln, und um die Füße fühlte es sich auch feucht an. Aber ihr Ärger dauerte nur kurz: Kleidungsstücke ließen sich reinigen, Schuhe trocknen. Unglücke dieser Kategorie konnten Alma nicht nachhaltig beeindrucken.
Durch den plötzlichen Wasserguss war ihr entgangen, dass sie schon unmittelbar vor dem Eingang des Hauses stand. Eingang war untertrieben, dachte sie – das war ja ein richtiges Portal, mit zwei Säulen, einer winzigen überdachten Vorhalle und einer soliden Haustür. Alma zog ihren Koffer zwei Stufen hinauf und unter das Dach, um weiteren Fontänen zu entgehen. Sie musterte die kleine Fläche vor der Tür. Auf der einen Seite lehnte ein blaues Damenfahrrad, Marke Diamant, tiefe DDR, ohne Gangschaltung und auch ohne Vorderrad, dafür mit einem schönen Gesundheitslenker und einem Ledersattel. Beides erinnerte sie für einen Moment wehmütig an die Räder ihrer Kindheit. Obwohl nicht fahrbereit, war es mit einem teuren Schloss sorgfältig an eine Eisenstange angehängt, die die linke Seite der Vorhalle zur Straße hin abgrenzte. Rechts neben der Tür lagen mehrere vollgestopfte Plastiktüten.
Alma schaute näher auf das schmutziggraue Klingelschild neben der Tür. Statt eines Namens befand sich darauf ein weißes Klebeetikett. Sie beugte sich vor und las: „Sein oder nicht sein, das ist hier die Frage“. Shakespeares Hamlet in der Goethestadt – hier lässt man nichts anbrennen, dachte sie. Mit einem prüfenden Blick überzeugte sie sich, dass die Luft rein und die Autos fern waren und sie wieder auf den Bürgersteig an der Ampel treten konnte. Sie fasste den Koffer, ging schnellen Schrittes zurück um die Hausecke und fand sich an ihrem Ausgangspunkt, der Graffitiwand, wieder.
Was nun? Sie schaute sich suchend um, sah auf ihre Armbanduhr und zog die Augenbrauen hoch. Das fing ja gut an.
Ihr Blick fiel auf ein kleines Gebäude, gelb verputzt und mit neuem Ziegeldach, das auf einer Art Verkehrsinsel mitten in der Straße stand. Leider hatte der Graffiteur auch hier sein Unwesen getrieben und das Häuschen zu einer Beleidigung für die Augen gemacht. Ein Stehtisch und drei Tische mit blauen Plastiksesseln standen rechts neben dem Haus, versorgt durch einen Schalter – offenbar der Busbahnhofskiosk. Alma verspürte sofort Kaffeedurst und gleichzeitig kräftigen Hunger. Das Sandwich vom ICE hatte sie schon auf der Höhe Leipzig aufgegessen, den hochpreisigen Kaffee dazu getrunken, und all das lag gut zwei Stunden zurück. Ihr Hunger war berechtigt, fand sie.
„Was darf’s denn sein?“, erklang eine tiefe und laute, aber nicht unfreundliche Frauenstimme aus dem Inneren des Kiosks durch die Schalteröffnung.
Alma hatte gerade ihren Koffer abgestellt, den feuchten Mantel über eine Sessellehne gehängt und schaute ein wenig erschrocken auf. „Einen Pott Kaffee mit Milch – und etwas zu essen, bitte.“
Jetzt hätte sie eigentlich die obligatorische Aufzählung erwartet: Currywurst mit Pommes, Hamburger, Bulette … Ach nein, sie war ja wieder zu Hause in Thüringen, da waren Bratwurst mit Brötchen oder Bockwurst mit Kartoffelsalat angesagt. Zu ihrer Verwunderung war nicht eines der erwarteten Angebote zu hören, stattdessen der Ruf nach hinten in die Tiefe des Häuschens: „Holger, einmal das Spezi!“
Alma fand, dass heute der Tag der Überraschungen war, da sollte man nicht unnötig eingreifen. Sie bedankte sich, als der Kaffee kam, der auf einem kleinen Tablett in blitzsauberer Tasse aus gutem Porzellan mit einem Kännchen Milch und einem Glas Wasser sogar zu ihr herausgebracht wurde.
„Nach einer Reise hat man ja doch ordentlich Durst, oder? Essen ist bei Holger in Arbeit.“
Alma schaute auf. Eine Frau ungefähr Mitte vierzig, vollschlank und mit schwarzem Lockenkopf, in den mehrere feuerrote Strähnen eingefärbt waren, nickte ihr mit wachem Blick und der Andeutung eines Lächelns