Jeder Aufmerksamkeitsprozess verläuft in einem Rhythmus. In der Schule sollten bestimmte Fächer, die mehr im Denken und Vorstellen beheimatet sind, wie Mathematik, Grammatik oder Philosophie abwechseln mit Tätigkeitsfächern, wie Sport, Handarbeit oder Werken.
Auch innerhalb eine Faches gilt es auf einen solchen Rhythmus zu achten. Nach der begrifflichen Darstellung eines Themas ist es sinnvoll praktisch tätig zu werden. Ähnliches gilt für das Gespräch. Wenn jemand eine längere Zeit nur zuhören und aufnehmen konnte, braucht er wieder die Möglichkeit selbst aktiv zu werden und sich zu äußern.
Das Gesetz von wacher Anspannen und Loslassen kann jeder erleben, der etwas verloren hat und wiederfinden will. Krampfhaftes Suchen bringt oft wenig Erfolg. Wer dagegen innerlich loslässt und ganz bewusst an etwas anderes denkt, weiß plötzlich, wo die Sache liegt.
Auch intrapsychisch ist ein solcher Bewusstseinswechsel nötig. Bei jedem Erkenntnisprozess geht es darum, sich erst mit der Sache innerlich zu verbinden („Eins mit ihm zu werden“) und dann sich wieder zu lösen, um ein sich ein sachliches Urteil bilden zu können. Ein Rhythmus von hingebender Verbindung und absetzender Reflexion ist angesagt. In der Psychologie wird vom Identifizieren und Disidentifizieren gesprochen.
2.5 GEISTIGE PRÄSENZ
(Achtsamkeit)
Aufmerksam zu sein, heißt sein äußeres Handeln „innerlich bewusst“ zu begleiten. Äußeres Tun und innere Vorstellung müssen eine Einheit werden.
Kleine Kinder begleiten ihr Tun sprachlich, indem sie beispielsweise ihre Spielzeugautos schieben und dabei „brrmm“ „brrmm“ „brrmm“ sagen.
Das sprachlich-begriffliche Begleiten der gerade auszuführenden Handlung ist Urbild für den Aufmerksamkeitsprozess. Das kann in vielen Fällen praktisch angewendet werden.
Der Fahrlehrer, der den Fahrschülern das Autofahren beibringt, geht auch so vor. Er sagt beispielsweise beim Linksabbiegen: „Links - Blinker setzen - im Rückspiegel den nachfahrenden Verkehr beachten – einordnen - Gegenverkehr abwarten - abbiegen“ usw. Jede einzelne Teilhandlung wird mit Worten bewusst begleitet.
Jeder Lehrer weiß, dass es für die Kinder eine außerordentliche Hilfe ist, wenn beim Erlernen einer neuen Tätigkeit jeder einzelne Schritt sprachlich-begrifflich begleitet wird. Manche kennen noch aus ihrer Kindheit solche Wendungen wie beispielsweise beim schriftlichen Addieren, etwa:
69 + 74 = ?
(neunundsechzig und vierundsiebzig ist wieviel? )
9 + 4 =13 (neun und vier ist dreizehn; drei an Eins gemerkt)
7+6=13 (sieben und sechs ist dreizehn und das gemerkte Eine ist vierzehn; schreibe 14.
143
Das Ergebnis ist also 143.
Dieser elementare Aufmerksamkeitsprozess lässt sich auf alle Handlungen anwenden. Wer merkt, dass er gerade unkonzentriert ist, kann seine Aufmerksamkeit stärken, indem er sein momentanes Tun mit Worten begleiten, z.B.: „Jetzt sitze ich, jetzt erhebe ich mich und jetzt gehe zur Tür, usw.“ Damit schließt er sein Bewusstsein an sein gegenwärtiges Handeln an.
Aufmerksamkeit wird jeden Augenblick neu geschaffen. Es kommt darauf an, im Augenblick geistig präsent zu sein. Darauf deuten Begriffe wie Geistesgegenwart, Präsenz, Achtsamkeit, Wachheit, Bewusstheit, Identifikation usw. hin.
2.6 ICHPROZESS
Der Schöpfer der Aufmerksamkeit ist das „individuelle menschliche Ich“. Dieses schafft Aufmerksamkeit jeden Augenblick neu. Es ist eine Entscheidung der individuellen Persönlichkeit, worauf und wie sie ihre Aufmerksamkeit richten will.
Konzentration und Interesse lässt sich nur kurzfristig dadurch erzeugen, dass jemand einem anderen sagt: „Pass doch mal endlich auf!“ oder „Kannst Du nicht etwas mehr Interesse für dies oder das zeigen?“ Eine solche Aufforderung lenkt die Aufmerksamkeit von außen.
Der innere Bezug zur Aufmerksamkeit wird nur dadurch erreicht, dass der Betreffende eine solche Aufforderung an sich selbst stellt. Als Beziehungspartner hat man nur die Möglichkeit, sich so verhalten, dass der Partner leichter zu seiner Aufmerksamkeit finden kann.
Oft werden Menschen als unaufmerksam bezeichnet, wenn sie kein Interesse für das haben, was ihre Mitmenschen für nötig halten. Der kleine Junge, der sich in der Mathematikstunde für ein Eichhörnchen vor dem Fenster interessiert, wird vom Mathematiklehrer wahrscheinlich als unaufmerksam bezeichnet, obwohl er sehr aufmerksam das Tierchen beobachtet.
Jeder muss selbst Kontrolle über sein Seelenleben, seine Gedanken, Gefühle und seinen Willen zu bekommen. In der modernen Geisteswissenschaft R. Steiners gibt es Übungen zur Gedankenkontrolle, Willenskontrolle und zur Gefühlskontrolle. Auch in verschiedenen Psychologierichtungen gibt es Vorschläge. Assagioli beschreibt beispielsweise in seiner Psychosynthese eine ganze Reihe von Übungen zur Schulung des Willens.4
Das Ich bestimmt worauf es seine Aufmerksamkeit richten will. Jeder Mensch muss den Schulungsprozess seiner Aufmerksamkeit selbst in die Hand nehmen. In den folgenden Kapiteln werden Aufgaben und Übungen beschrieben, die dabei verwendet werden können.
3 R.Steiner: Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten, R.Steiner Verlag 1961
4 Assagioli Roberto Die Schulung des Willens Junfermann Paderborn 1991
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