CHRISTOPH WILKER
CHRISTOPH WILKER
Die Geschichte vonRita Glasner, einemBibelforscherkindim „Dritten Reich“
Ich hatte eine
gerade Linie,
der ich folgte
Volk Verlag München
Abb. 1: Rita Glasner 1941, im Alter von 11 Jahren (Umschlag)
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Druck: Stürtz GmbH Würzburg
Alle Rechte, einschließlich derjenigen des auszugsweisen
Abdrucks sowie der fotomechanischen Wiedergabe, vorbehalten.
ISBN 978-3-86222-165-3
INHALT
1 Frühes Verbot der Glaubensgemeinschaft – Erste Auswirkungen auf Ritas Familie
4 Die schlimmste Reise meines Lebens
5 Die Verurteilung von Ritas Mutter: Gründe und Folgen
6 Die Entwicklungen nach der NS-Zeit – Täter und Opfer
VORWORT
„Erinnerung lebt von Emotionalität“
(Charlotte Knobloch)[*]
Anfang 2011, zwei Jahre nach dem Tod ihres Mannes, setzte ich mich mit Rita Berger im Rahmen historischer Studien in Verbindung. Ich hatte sie noch nie zuvor gesehen und erst wenige Monate vorher von ihr als Zeitzeugin erfahren. Langsam öffnete sich Rita Berger, die in diesem Buch weitgehend Rita Glasner, ihr Mädchenname, oder kurz Rita genannt wird. Anfänglich ging es nur darum, die zahlreichen Dokumente, die sie von ihrer Mutter Katharina Glasner erhalten hatte, zu sichern und auszuwerten. Doch schließlich entwickelte sich ein reger Gedankenaustausch. Dabei ging es um mehr als die Dokumente ihrer Mutter. Immer mehr trat auch die bewegte Vergangenheit von Rita, einer beeindruckenden und sympathischen Persönlichkeit, die untrennbar verbunden ist mit der Geschichte ihrer Eltern, in den Vordergrund. Die Berichte von Rita waren so berührend und bewegend, dass sich eine Dokumentation ihrer Erfahrungen aus der NS-Zeit nahezu aufdrängte.
Rita wuchs im Münchner Ortsteil Waldtrudering unter den sehr schwierigen Verhältnissen des Nationalsozialismus und der Kriegszeit auf. Als Adolf Hitler und seinem NS-Regime die Macht übertragen wurde, war Rita gerade einmal drei Jahre alt. Sie erlebte damit nahezu ihre gesamte Kindheit und die ersten Jahre ihrer Jugend während des zwölfjährigen NS-Unrecht-Regimes – und das als Kind von Bibelforschern, die von den Nationalsozialisten auf das Schärfste verfolgt wurden.
Neben Rita steht vor allem ihre Mutter Katharina Glasner im Mittelpunkt dieser Dokumentation. Zur Sprache kommen auch Wegbegleiter und andere, die für Rita oder ihre Mutter in den Jahren des NS-Regimes von Bedeutung waren. Dagegen wird bei Personen, die erwähnt werden, um das Gesamtverständnis zu erweitern, auf den Anhang oder eine Fußnote verwiesen.
In der für Kinder üblichen Weise glaubte Rita an Werte, die ihr von ihren Eltern vermittelt wurden. Doch in ihrem Umfeld musste sie immer wieder erleben, dass diese scheinbar keinen Bestand hatten. Ihre Mutter, die unter größtem Druck weiter an ihren biblisch geprägten Wertvorstellungen festhielt, war ihr großes Vorbild. Dagegen fehlte ihrem Vater, den Rita als Ruhepol der Familie wahrgenommen hatte, nach mehrjährigem enormen Druck vonseiten der Gestapo, schließlich die Kraft, weiter für seine Prinzipien einzustehen. Er machte Kompromisse, ohne sich aber innerlich von seinen christlichen Werten zu verabschieden.
Rita wuchs also in einem Umfeld auf, in dem die Wertvorstellungen ihres Elternhauses, zu denen auch sie sich bekannte, als illegal erklärt und bekämpft wurden. So musste sie schon als Kind und Jugendliche vieles beobachten, erleben und verarbeiten, was ihrem Rechtsempfinden widersprach, auch im familiären Umfeld, in der Schule und in der Nachbarschaft.
Die Erfahrungen, die Rita als Kind machte, prägten ihr ganzes Leben. Jahre, Jahrzehnte, war sie nicht in der Lage, über ihre Erfahrungen zu sprechen. Zu viel Schreckliches hatte sie durchgemacht. Selbst als sie in den 1990er Jahren von offizieller Seite angesprochen wurde, lehnte sie es ab, Erlebtes zu offenbaren. Sie wollte weiter nach vorne schauen, das Alte hinter sich lassen, verdrängen. 82 Jahre ist sie alt, im Jahre 2011, bei unseren ersten Gesprächen. Sie ist gepflegt und gut gekleidet, geistig sehr wach und sie wirkt auch körperlich vital. Rita bestätigt, es gehe ihr gut, doch ihr Gesicht und ihre gesamte Ausstrahlung vermitteln: Hier ist eine Person, die viel durchgemacht hat in ihrem Leben. Sie sitzt ruhig, ist gelassen und strahlt Würde aus. Rita weiß viel zu berichten aus ihrem Leben und sie beginnt zu erzählen – aus ihren Kindertagen, über ihre Jugend, über ihre eigenen Erlebnisse und die ihrer Mutter sowie über ihre zahlreichen Wegbegleiter und Begegnungen und die ihrer Mutter.
Erst später erfahre ich: Es war das erste Mal, dass sie ihre Geschichte, die schon so lange Zeit zurückliegt, jemandem anvertraut hat (abgesehen von ihrem Ehemann). Lange hat sie ihre Erfahrungen verdrängt, doch nun ist die Zeit reif, zu erzählen. „Was du machst ist gut“, begründet sie ihre veränderte Haltung, „deshalb unterstütze ich dich.“ Wir treffen uns wiederholt. Es gibt eine endlos erscheinende Kette von Fragen und Antworten, Dokumenten, Fotos. Die Zeit vergeht, Rita ist inzwischen 85 Jahre alt.
Was Rita durchmachen musste, hinterließ bei ihr Spuren bis ins hohe Alter. Unzählige Geschichten von NS-Verfolgten aller Opfergruppen zeigen: Einschneidende Erfahrungen kann ein Mensch in seinem kurzen Leben nicht einfach abschütteln. Er muss sie akzeptieren, mit ihnen leben und sie verarbeiten. Und eben diese Emotionalität, von der Charlotte Knobloch, die ehemalige Vizepräsidentin des Jüdischen Weltkongresses, 2013 sprach, ist es, die Geschichte lebendig werden lässt. Dadurch erhält die Nachwelt die Chance, die Verhältnisse der NS-Zeit und die Ereignisse der NS-Geschichte lebendig werden zu lassen, zu verstehen und – und das ist das Wichtigste – daraus