Eine gute Idee? Nun, das sieht man in anderen Kulturen anders: »Dass ein Baby Zeit allein verbringt, ist eine unvorstellbare und grausame Idee für die Nso-Erziehungsphilosophie.«
Den Nso ist auch mehr als den deutschen Eltern die körperliche Entwicklung ihrer Kinder sehr wichtig – und folgerichtig sind die kamerunischen Babys mit drei Monaten in ihrer Motorik den hiesigen Kindern deutlich überlegen. Sie können nun schon über längere Zeit auch ohne Unterstützung frei sitzen und zeigen beim Herumtollen eine erkennbar stärkere Kopf- und Körperkontrolle. Dafür sind die deutschen Babys besser in der sozialen Kommunikation: Sie reagieren eher auf ihren Namen, lächeln in sozialen Situationen und geben erste interessante Geräusche von sich.
Besonders spannend wurde es, als Keller die Videos der einen Gruppe der anderen zeigte. Die Nso-Mütter trauten ihren Augen nicht, als sie sahen, wie deutsche Mütter ihre Kinder zu beruhigen versuchten, ohne ihnen die Brust zu geben, und wie deutsche Babys allein schliefen. Sie fragten sogar nach, ob es in Deutschland verboten wäre, die Kinder auf den Arm zu nehmen, weil die Babys so viel Zeit in Babywippern, in Wiegen und auf dem Boden verbrachten. Die deutschen Mütter hingegen waren entsetzt, als sie Massage und Bewegungstraining der Nso sahen, weil es ihnen unsanft und übergriffig vorkam.
Leider hinterfragen wir selten, welches Erziehungsziel wir eigentlich verfolgen und ob es ein sinnvolles, gesundes, kluges Ziel ist. In der westlichen Welt müssen Babys schon früh lernen, allein ein- und durchzuschlafen, weil wir hoffen, dass sie dann früh unabhängig und selbstständig werden. Ob das stimmt, weiß kein Mensch. Es gibt hingegen Studien, die belegen, dass Kinder gesünder, stärker, selbstbewusster und stabiler werden, wenn sie nachts keine Angst haben müssen und von Erwachsenen beschützt sind.
Wie wir Kinder behandeln, hängt also stark von der Kultur und unseren Erwartungen ab. Aber eines bleibt: Geliebte Kinder sind starke Kinder. Denn die Bindungstheorie konnte schon relativ früh im vorigen Jahrhundert belegen, dass Kinder uns als sicheren Hafen brauchen und dass Liebe nichts mit Verzärtelung zu tun hat. Dass kleine Jungen verweichlichte Muttersöhnchen werden, wenn sie zu viel Liebe bekommen, wurde in der Geschichte der Menschheit schon oft behauptet. Aber kein Wissenschaftler konnte es jemals beweisen. Egal, was unsere eigenen näheren Vorfahren gedacht oder uns erzählt haben – zu viel Liebe gibt es nicht.
Den Kompass ausrichten
Wenn wir einen Kompass haben wollen, um unseren Weg zu finden, müssen wir auch festlegen, wo Norden ist – sonst hilft uns der schönste Kompass nichts. Wo soll es also hingehen?
Machen wir uns nichts vor: Unsere Kinder stehen vor einer der größten Herausforderungen der Menschheit (wir auch, aber wir haben es schon fast hinter uns). Sie müssen stark sein, wenn sie sie bewältigen wollen. Aber Stärke allein wird nicht reichen. Sie müssen sich auch mit anderen verbinden und gemeinsam an Problemen arbeiten können. Sie müssen Teil einer weltweiten Gemeinschaft werden, die mit ihrem Heimatplaneten in Balance leben und dafür auf rücksichtslose Ausbeutung und Konsum verzichten kann. Sie werden um die Ecke denken müssen. Sie werden anders als wir den Mut haben müssen loszulassen, woran wir uns noch festklammern, und sie werden Neues ausprobieren, das wir bis jetzt für undenkbar hielten. Sie werden viele Rückschläge aushalten müssen, und es wird ihnen helfen, wenn sie psychisch gesund sind, gut schlafen können und wenige chronische Krankheiten haben. Für dieses Buch werden wir daher neben der rein körperlichen Gesundheit der Kinder vor allem auf die drei Engel aus dem einleitenden Kapitel schauen:
Wie werden unsere Kinder möglichst stabil und widerstandsfähig gegen Stress?
Wie bekommen unsere Kinder ein starkes Selbstwertgefühl, das ihnen hilft, ihren Weg zu gehen und dabei mit anderen zu kooperieren?
Wie werden unsere Kinder resilient, damit sie auch nach schweren Schicksalsschlägen wieder auf die Beine kommen?
Das ist unser »Norden«, auf den wir unseren Kompass ausrichten wollen. Wir werden auf dem Weg einiges für und über uns selbst erfahren, was auch jetzt noch unser Leben einfacher machen kann. Wenn wir verstehen, wie es hätte sein sollen und warum es so war, wie es war, dann können wir auch heute noch etwas für uns tun. Beginnen wir also mit dem Anfang.
SCHWANGERSCHAFT, GEBURT UND DAS NEUE LEBEN
»Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne« – so steht es auf vielen Geburtskarten. Ob Eltern bewusst ist, dass es in dem Gedicht »Stufen« von Hermann Hesse vor allem um den Abschied geht? Und so geht es weiter mit den Unklarheiten rund um die erste Zeit im Leben, und es geht weiter mit den existenziellen Fragen: Wird der Mensch gut geboren, oder ist er böse? Sind Babys kleine Tyrannen, unbeschriebene Blätter oder unerkannte Genies? Wir Eltern sind umgeben von Ammenmärchen, Zeitungsschlagzeilen und ständig wechselnden Ratschlägen. Was wir sicher wissen: Es ist nicht egal, wie wir geboren werden. Es ist nicht egal, wie wir ernährt werden, wo wir schlafen; und sogar wie wir uns entleeren, spielt eine Rolle für diesen Planeten. Die Kleinsten haben einen riesigen ökologischen Fußabdruck – völlig unnötig, denn Babys und Forscher würden den Großteil von dem Kram, den wir Eltern anschaffen, nicht kaufen. Was Babys wirklich brauchen, ist nämlich ganz einfach – und glücklicherweise gut erforscht.
SCHWANGERSCHAFT – WAS SINNVOLL IST, WAS NICHT
Als ich schwanger war, stellte ich fest: Das ist ja wie ein zweiter Job! Obwohl ich eine kerngesunde Schwangere war, hatte ich plötzlich ständig Termine beim Arzt. Was ich nicht wusste: Die meisten Vorsorgeuntersuchungen in der Schwangerschaft haben keinen messbar positiven Effekt auf die Gesundheit von Mutter und Kind. Ernsthaft? Ernsthaft.25
In Deutschland sieht das so aus: Im Jahr 2013 wurde bei über 90 Prozent der Schwangeren vorgeburtlich routinemäßig eine kardiotokografische Untersuchung (CTG) durchgeführt, im Schnitt waren es vier bis sechs CTGs – und das, obwohl diese Herzschlagmessung des Ungeborenen keine Routinemaßnahme ist und nur unter speziellen Umständen empfohlen wird. Statt der drei vorgesehenen Ultraschalluntersuchungen nehmen fast die Hälfte aller unbelasteten Schwangeren fünf und mehr in Anspruch. Und warum tun sie das? Sie geben an, dass sie es für Routine halten – und sind bereit zu zahlen, auch wenn sie nicht über ein höheres Einkommen verfügen.26
Insofern sollten Eltern gut darauf achten, welche Untersuchungen sie machen möchten und welche nicht. Und bei wem – denn grundsätzlich kann die gesamte Vorsorge auch von der Hebamme vorgenommen werden, ein Arzt ist dazu nicht notwendig. Nur Ultraschalluntersuchungen sind Ärzten vorbehalten. Die Sonografie zur Feststellung der Schwangerschaft und die Untersuchung auf Anomalien zur zwanzigsten und dreißigsten Woche gelten als sinnvoll – jede weitere kann bei einer komplikationslosen Schwangerschaft als »Babyfernsehen« betrachtet werden und auch unterbleiben.
Wie schädlich Ultraschall sich tatsächlich auswirkt, ist übrigens nicht geklärt – manche Studien lassen vermuten, dass er das Ungeborene zumindest unter Stress setzt, aber andere finden keine Effekte (oder nur bei Mäusen, die absurd hohen Schallwerten ausgesetzt waren).27 Es kommt für den Fötus offenbar stark darauf an, wie oft, wann, wo und wie lange Ultraschall angewendet wird, und es gilt die Regel: Möglichst spät, möglichst nicht an kritischen Strukturen und möglichst kurz. Einig sind sich die Mediziner darin, dass er nur auf medizinische Zwecke begrenzt werden sollte, kanadische Forscher klammern hier übrigens auch die Geschlechtsbestimmung aus. Und hier haben wir auch schon das Dilemma der Ärzte: Eltern wollen ihr Baby »sehen« und versprechen sich sichere Informationen, sind aber oft nicht darauf vorbereitet, dass ein Ultraschalltermin auch schlechte und falsche Nachrichten bringen kann.28
Ultraschall sollte möglichst spät, möglichst nicht an kritischen Strukturen und möglichst kurz zum Einsatz kommen und nur auf medizinische Zwecke begrenzt werden.
Die Nackenfaltenmessung in der zwölften Schwangerschaftswoche