4. Mai 1930
Kapitel 2
Die höchsten Ebenen des Seins
Ich glaube nicht, dass zwischen einem System spirituellen und okkulten Wissens und einem anderen immer wechselseitige Verbindungen hergestellt werden können. Alle befassen sich mit dem gleichen Stoff, doch gibt es Unterschiede des Standpunktes, Unterschiede der Auffassung, Verschiedenheiten, was die mentale Vorstellung dessen anbelangt, was erkannt und erfahren wird, grundverschiedene pragmatische Ziele und unterschiedliche Wege, die abgesteckt und gebahnt sind und denen man folgt; die Systeme unterscheiden sich, jedes schafft sich sein eigenes Schema, seine eigene Technik.
Im alten indischen System gibt es nur ein trinitarisches Höchstes, Sachchidananda. Oder aber, wenn du von der oberen Hemisphäre als der höchsten sprichst, sind es drei, die Sat-Ebene, die Chit-Ebene, die Ananda-Ebene. Das Supramental könnte man als eine vierte hinzufügen, da es sich auf den drei anderen gründet und zur oberen Hemisphäre gehört. Die indischen Systeme unterscheiden nicht zwischen zwei grundverschiedenen Mächten und Ebenen des Bewusstseins, nämlich derjenigen, die wir das Obermental nennen und der anderen, dem wahren Supramental oder der Göttlichen Gnosis. Das ist der Grund des Irrtums bezüglich der Maya (die Kraft des Obermentals oder vidya-avidya) und warum sie diese für die höchste schöpferische Macht ansahen. Indem sie derart bei etwas haltmachten, was nur ein halbes Licht war, verloren sie das Geheimnis der Umwandlung; Vaishnava- und Tantra-Yoga suchten tastend danach, es wiederzufinden, und befanden sich manchmal am Rande des Erfolgs. Für die übrigen Systeme hingegen war dieser Irrtum - das ist jedenfalls meine Meinung - der Hemmschuh für alle Versuche, die dynamische göttliche Wahrheit zu entdecken; ich kenne kein System, das nicht glaubte, sobald sich der Glanz des Obermentals herabsenkte, dass dies die wahre Erleuchtung, die Gnosis sei; das Ergebnis war, dass sie dort entweder haltmachten und nicht weiterkamen oder aber zu der Schlussfolgerung gelangten, dass auch dieser Glanz nur Maya oder lila sei und dass es allein Eines zu tun galt, nämlich darüber hinaus zu gelangen in das unbewegliche, untätige Schweigen des Höchsten.
Vielleicht ist das, was mit den Höchsten gemeint sein könnte, eher die drei Fundamente der gegenwärtigen Schöpfung. Im indischen Denksystem sind es Ishvara, Shakti und Jiva oder auch Sachchidananda, Maya, Jiva. In unserem System, das versucht, über die gegenwärtige Manifestation hinauszugelangen, könnten jene sehr wohl als gegeben angenommen und vom Standpunkt der Bewusstseinsebenen betrachtet werden; die drei obersten, also Ananda (mit Sat und Chit, die darauf beruhen) sowie das ,Supramental und Obermental wären in diesem Fall die drei Höchsten. Das Obermental befindet sich am Gipfel der niederen Hemisphäre, und du musst hindurch und über das Obermental hinaus, wenn du das Supramental erreichen willst; über dem und jenseits des Supramentals befinden sich dann die Welten von Sachchidananda.
Du sprichst von der Kluft unterhalb des Obermentals. Doch ist dort wirklich eine Kluft vorhanden, - gibt es irgendeine andere Kluft als menschliche Unbewusstheit? In der Reihenfolge der Bewusstseinsebenen oder -stufen gibt es nirgendwo eine wirkliche Kluft, es sind immer Verbindungsstufen vorhanden, und man kann Schritt für Schritt aufsteigen. Zwischen dem Obermental und dem menschlichen Mental gibt es eine Anzahl von immer lichthafteren Abstufungen; da diese dem menschlichen Mental jedoch überbewusst sind (außer einer oder zwei der untersten, von denen es direkte Berührungen erhält), neigt es dazu, sie als eine Art höheres Unbewusstes zu betrachten. Daher spricht eine der Upanishaden von dem Ishvara-Bewusstsein als susupti, tiefem Schlaf, da der Mensch meist nur im Samadhi-Zustand darin eintreten kann, solange er nicht versucht, sein Wachbewusstsein in einen höheren Zustand zu erheben.
Tatsächlich gibt es zwei Systeme, die gleichzeitig im Aufbau des Wesens und seiner Teile wirken; das eine ist konzentrisch, eine Folge von Ringen oder Hüllen mit der Seele im Zentrum; das andere ist vertikal, ein Aufsteigen und Herabkommen ähnlich einer Treppenflucht, eine Folge übereinanderliegender Ebenen mit Supramental-Obermental als zentralem Punkt des Übergangs jenseits des Menschlichen ins Göttliche. Für diesen Übergang, wenn er gleichzeitig eine Umwandlung bewirken soll, gibt es nur einen Weg, einen Pfad. Zuerst muss eine Wendung nach innen erfolgen, ein Nach-innen-Gehen, um das innerste seelische Wesen aufzufinden, um es hervortreten zu lassen, wobei zur gleichen Zeit das innere Mental, das innere Vital und die inneren physischen Teile der Natur enthüllt werden. Das nächste ist ein Emporsteigen, eine Folge von nach oben gerichteten Verwandlungen und ein Hinabwenden, um die niederen Teile umzuformen. Nachdem man die innere Wandlung vollzogen hat, wird die gesamte niedere Natur durchseelt und für die göttliche Veränderung bereit gemacht. Indem man aufsteigt, überschreitet man das menschliche Mental, und auf jeder Stufe des Aufstiegs findet eine Wandlung in ein neues Bewusstsein statt, und dieses neue Bewusstsein durchdringt die Gesamtheit der menschlichen Natur. Indem man sich derart über den Verstand erhebt, vom erleuchteten höheren Mental bis zum intuitiven Bewusstsein, beginnen wir die Dinge nicht mehr von der intellektuellen Ebene her zu betrachten oder mit Hilfe des Intellektes als Instrument, sondern von einer größeren intuitiven Höhe und mit Hilfe eines Willens, Fühlens, einer Empfindung, eines Sinnes und physischen Kontaktes, die alle intuiviert wurden. Indem man derart von der Intuition zu einer größeren Obermental-Höhe fortschreitet, findet eine erneute Verwandlung statt, und wir betrachten und erfahren die Dinge durch das Obermental-Bewusstsein und durch ein Mental, ein Herz, ein Vital und einen Körper, die von dem Denken des Obermentals durchtränkt sind, - von seinem Sehnen, Wollen, Fühlen und Empfinden, von seinem Spiel der Kräfte, von seiner Berührung. Die letzte Verwandlung jedoch ist die supramentale; denn ist man einmal dort angelangt, ist einmal die menschliche Natur supramentalisiert, befinden wir uns jenseits der Unwissenheit, und eine Wandlung des Bewusstseins ist nicht länger erforderlich, obwohl ein weiteres göttliches Fortschreiten, ja sogar eine unendliche Entwicklung noch möglich sind.
16. April 1931
Kapitel 3
Die Abstufung der Welten
Wenn wir die Abstufung der Welten oder Ebenen als Ganzes betrachten, erkennen wir sie als eine große, zusammenhängende, komplexe Bewegung; die höheren wirken auf die niederen ein, die niederen reagieren auf die höheren und entwickeln und manifestieren in sich - innerhalb ihrer eigenen Gegebenheiten - etwas, das der höheren Macht und deren Wirken entspricht. So entfaltete die stoffliche Welt, indem sie einem Druck der vitalen Ebene nachgab, das Leben und später das Mental, indem sie einem Druck der mentalen Ebene folgte. Nun versucht sie, das Supramental zu entfalten, einem Druck der supramentalen Ebene gehorchend. Dies heißt im einzelnen, dass bestimmte Kräfte, Bewegungen, Mächte und Wesenheiten einer höheren Welt in eine niedere eindringen können, um dort entsprechende und korrespondierende Formen zu schaffen, die sie mit dem stofflichen Bereich verbinden und dort ihr Wirken gleichsam nachbilden oder übertragen. Und alles, was hier geschaffen wurde, besitzt feinstoffliche Hüllen oder Formen, die es stützen und erhalten und die es mit den von oben wirkenden Kräften verbinden. Der Mensch zum Beispiel besitzt neben seinem grobstofflichen physischen Körper feinstofflichere Hüllen oder Körper, durch welche er im Verborgenen in direkter Verbindung mit überstofflichen Bewusstseinsebenen steht und durch deren Mächte, Bewegungen und Wesenheiten er beeinflusst werden kann. Was im Leben stattfindet, hat immer präexistente Bewegungen und Formen in den okkult-vitalen Ebenen hinter sich; was im Mental stattfindet, setzt präexistente Bewegungen und Formen in den okkult-mentalen Ebenen voraus. Dies ist ein Aspekt der Dinge, der immer offenkundiger, eindringlicher und wichtiger wird, je weiter wir in einem dynamischen Yoga voranschreiten.
Doch all dies darf nicht in einem zu starren, mechanischen Sinn aufgefasst werden. Es ist eine ungeheuer plastische Bewegung, voll das Spiels der Möglichkeiten, und muss mit anpassungsfähigem und feinem Empfinden oder Sinn von einem aufmerksamen Bewusstsein erfasst werden. Man kann es auf keine unerbittlich logische oder mathematische Formel zurückführen. Zwei oder drei