Kapitel 13
»Da, Mama!« Kolja zeigt nach vorn.
Tatsächlich kann ich bereits die Spitze des Goldenen Schlosses sehen. Annaburg. Hauptstadt des Goldenen Reiches. Sitz der Goldenen Frau und ihrer Goldenen Garde. Inbegriff von Zivilisation und Kultur, Löwinnenarena und Hyäninnenbecken. Voller Chancen und Gefahren. Todesort so vieler meiner Freundinnen. Letzte Ruhestätte ihrer Körper.
Wirkstätte zahlreicher mächtiger Frauen. Voll Wissen und sonnenbeschienener Wunder. Voll Gefahr und Schatten. Hier hat mein Sohn vor nicht allzu langer Zeit eine Reihe seltsamer Todesfälle aufgeklärt. Hier haben sie mir meine Magie genommen.
Das Stadtkrankenhaus: Einziges Zeugnis einer vergangenen Zeit, in der Männer sich hier erdreisteten, Frauen zu regieren, ihnen ihr Geburtsrecht abzuerkennen und in der sie jede, die es wagte, Magie zu benutzen, verfolgten, folterten und grausam töteten. Alles angeblich im Namen eines natürlich männlichen Gottes, dem weibliche Menschen von Beginn an ein Gräuel waren, der sie verfluchte und mit allem versah, das schwach und von Übel war.
So ein Schwachsinn! Eine Lüge, gestrickt, um uns kleinzuhalten und zu kontrollieren. Doch wir haben uns erhoben und sie davongejagt, samt ihres falschen Gottes. Haben die natürliche und göttingewollte Ordnung wiederhergestellt, nach der der Mann unter der Frau steht. Die Rebellinnen wollen das nun ändern, weiß die Göttin, was dann geschieht.
Annaburg – es ist schön, dich zu sehen!
Ich bemerke es im selben Moment, wie Désirée. Die Rebellin ist ganz schön auf Zack! Wenige Sekunden später versteift sich auch Simone in ihrem Sattel, zügelt ihr Pferd und hebt die Hände.
»Da ist eine«, antworte ich auf Koljas stumme Frage. »Sie kommt näher. Nein«, korrigiere ich mich, »es sind mehrere, mindestens vier.«
Nun halten wir alle an und wenden unsere Pferde, so dass wir einen lockeren Kreis bilden. Falls Kolja, Corey, Hugo und Tracey ein Problem damit haben, in dessen Mitte zu sein, lassen sie sich nichts anmerken.
Büsche zu meiner Rechten rascheln, etwas bewegt sich, kriecht über den Waldboden bis zur Straße auf uns zu. Eine Pflanze. Sie schlängelt kurz hin und her und bleibt dann liegen, anstatt sich langsam wieder zurückzuziehen. Wer auch immer auf uns zukommt, kommt also zumindest dem Anschein nach in Frieden. Und möchte mit uns sprechen.
Simone, Désirée und ich tauschen vielsagende Blicke. Auf mein Zeichen hin behält Simone die Männer im Blick; Désirée deckt meinen Rücken.
»Ja bitte?«, sage ich laut.
»Guten Tag. Dürfen wir näherkommen?«
»Aber natürlich!«
Ich setze mich aufrecht hin und nehme Haltung an. Nur weil eine höflich ist, bedeutet das noch lange nicht, dass sie es nicht darauf anlegt, uns anzugreifen und auszurauben.
Vier Reiterinnen kommen aus dem Wald. Sie lassen ihre Pferde die Straße betreten und bleiben in respektvollem Abstand zu uns stehen.
»Guten Tag«, wiederholt die Frau an der Spitze der kleinen Gruppe. Eine lässige Handbewegung lässt die Pflanze zurückschnacken und dann im Erdreich verschwinden.
Routinemäßig versuche ich, die Frauen einzuschätzen. Die Anführerin hat ganz offenkundig irgendeine Pflanzenmagie, offenbar in Verbindung mit dem Boden. Von mir aus. Sie wirkt selbstbewusst, sogar einen Hauch arrogant. Sie weiß, was sie kann und was sie will. Ich bin gespannt, was das sein wird.
Die Frauen hinter ihr, die ihre Hände ebenfalls ein Stück weit erhoben haben – weit genug, um schnell Magie schleudern zu können, aber nicht so hoch, dass es ein Affront ist – wirken gegen sie einen Hauch weniger selbstbewusst, jedoch nicht weniger wachsam. Der kühle, gezügelte Hass, den ich in den Gesichtszügen der Pflanzenmagierin abzulesen meine, ist bei den anderen nicht zu sehen, stattdessen eine Mischung aus Empörung und vor sich selbst gerechtfertigtem Zorn.
»Hallo. Was kann ich für Sie tun?«
Die Frauen sind gut, aber nicht zu gut gekleidet. Also vermutlich keine Wegelagerinnen. Keine macht das geheime Zeichen, das sie als Rebellinnen ausweisen würde.
»Ist Ihnen in den letzten Stunden eine Person begegnet?«
Abzeichen erkenne ich keine. So wie sie sich verhalten – alle hintereinander und überwiegend in dieselbe Richtung starrend – haben wir es mit Zivilistinnen zu tun.
»Nicht, dass ich wüsste.«
Ich gönne der Dame nicht die Genugtuung, nachzufragen. Auf verbale Köder reagiere ich allergisch.
Sie schweigt eine Weile, dann holt sie Luft. Dachte ich mir’s doch, die Wenigsten können der Versuchung widerstehen, sich anderen Menschen mitzuteilen. Was ich noch nie wirklich verstanden, aber schon sehr oft zu meinem Vorteil genutzt habe.
»Wir suchen eine flüchtige Person.«
»›Eine flüchtige Person‹, soso«, brummt Désirée in meinem Rücken. Ihr Tonfall macht klar, wo im Augenblick ihre Sympathien liegen: Nicht bei der Frauengruppe. Ein bisschen voreilig für meinen Geschmack – oder hat sie ein Bauchgefühl?
Ich gebe zu, dass mir die Damen auch nicht sonderlich zusagen. Das bedeutet jedoch noch lange nicht, dass sie im Unrecht sind.
»Ach ja?«
»Einen Mann, um genauer zu sein.« Die Anführerin kneift ihre Augen zusammen. »Und Sie haben wirklich keine Menschenseele getroffen? Oder gesehen?«
Ich mag es nicht, wenn eine an meinen Worten zweifelt. Hätte ich noch meine Eismagie, ich hätte sie längst in meine Fingerspitzen schießen lassen. So tue ich instinktiv das Nächstbeste: Ich ziehe mir etwas aus dem Magiespeicherstein, der in einem meiner Ringe sitzt. Was haben wir da? Schneckenmagie, witziger Zufall. Der Göttin sei Dank, habe ich mich auch mit Weichtiermagie ausführlichst beschäftigt. Obwohl sie echt ekelig ist. Vor allem bei Pflanzen kann eine damit eine Menge Schaden anrichten. Schnecken sind durch so gut wie nichts aufzuhalten. Sofern nicht eine der Frauen über Salzmagie, Sand oder Feuer verfügt, könnte ich damit schöne große Löcher machen und der Tussi binnen Sekunden erstmal eine schöne Ladung Schleim in Augen und Ohren treiben.
Wie von allein verzieht sich mein Mund zu einem Grinsen.
»Schon gut!« Die Frau macht eine beschwichtigende Geste. »War nicht so gemeint.«
»Helena!«, zischt Simone.
Ich seufze theatralisch. Wenn ich die lästige Kuh nur so loswerde, dann, bei den Sieben Finsterhexen, soll es wohl so sein.
»Und wen suchen Sie, wenn ich fragen darf?«, erbarme ich mich.
Unbändiger Hass verzerrt für einen winzigen Moment die Gesichtszüge der Pflanzenhexe, dann hat sie sich wieder unter Kontrolle.
»Wir suchen einen Mann. Meinen Mann.« Sie betont ihren Besitzanspruch mehr, als nötig gewesen wäre.
Die Spannung, die in der Luft liegt, rät mir deutlich, die Fremde nicht zu provozieren. Aber was soll ich sagen? Ich kann’s einfach nicht lassen!
»Wieso?«, frage ich betont unschuldig, »Haben Sie ihn verloren?«
Hinter mir stöhnen Simone und Désirée gleichzeitig auf. Die Männer geben keinen Mucks von sich. Ist vermutlich auch gut so.
Die Fremde bedeutet ihren Freundinnen zu warten, schnalzt mit der Zunge und lässt ihr Pferd näherkommen.
»Was dagegen, wenn ich mir ihre Begleiter einmal näher