All die ungelebten Leben. Michaela Abresch. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Michaela Abresch
Издательство: Readbox publishing GmbH
Серия:
Жанр произведения: Современная зарубежная литература
Год издания: 0
isbn: 9783862827350
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vor, nach dem Aufstehen einen Spaziergang in den Dünen zu unternehmen, weil ich ausnahmsweise nicht so kurzatmig bin. Der Himmel ist wahnsinnig blau heute! Nur ein paar zerrupfte Wolken treiben am Horizont über den weißen Hügeln. Es ist dieser Farbton, für den Tante Gitte früher das Wort Inselblau erfand. »Hebt die Köpfe, Mädchen, und seht euch dieses Inselblau an!«, sagte sie dann, oder: »Was für ein wunderschöner, inselblauer Tag!« Jahrelang war Inselblau für mich ein Synonym für Lakolk, für das Meer hinter den Dünen, für Ferien in Tante Gittes Sommerhaus.

      Und jetzt … kein Spaziergang möglich. Die Schmerzen machen mir einen dicken, fetten Strich durch den inselblauen Plan.

      Frau Doktor Mensberg hat mir zuhause ja schon weitere Bestrahlungen ans Herz gelegt. Palliative Bestrahlung nennt sie das, zum Verkleinern der Absiedelungen und zum Lindern der Beschwerden. Verschwinden werden sie nicht.

      Sie sagt immer Absiedelungen, vielleicht glaubt sie, dass das schonender in den Ohren ihrer Patienten klingt als Metastasen. In meinen Ohren klingt das eine so absonderlich wie das andere.

      Sie musste mir nicht sagen, dass Knochenmetastasen ein Spätsymptom sind und auf ein fortgeschrittenes Stadium der Krebserkrankung hinweisen. Wie sich doch die Bedeutung von Worten verändert, sobald etwas Bösartiges in einem wächst. Fortgeschritten sein habe ich früher immer mit etwas Positivem verbunden. Als ich vor meinem ersten Auslandseinsatz an der Volkshochschule mein Schulenglisch aufbessern wollte, buchte ich einen Kurs für Fortgeschrittene. Weil ich besser war als die blutigen Anfänger. Weil meine Kenntnisse gut genug waren, direkt eine Stufe höher einzusteigen. Ein Krebsgeschwür im fortgeschrittenen Stadium zu beherbergen, hat aber absolut nichts damit zu tun, gut zu sein, besser zu sein als die anderen, einen Vorsprung zu haben. Na ja, wie man’s nimmt. Wer einen Vorsprung hat, ist der Krebs. Je fortgeschrittener er ist, desto schneller ist er am Ziel. Das ist das eigentlich Blöde, dass er ein anderes Ziel verfolgt als ich.

      Wie auch immer, ich weiß, dass Metastasen auf ein fortgeschrittenes Stadium hindeuten. Krankenschwestern wissen so etwas. Und es ist ja nicht so, dass ich noch keine Bestrahlungen gehabt hätte. Rechte Brust, linke Brust, Lendenwirbelsäule. Die Tumormasse verkleinerte sich. Und fing nach Bestrahlungsende sofort wieder an zu wachsen. Außerdem löste sich beim zweiten Mal die bestrahlte Haut in Fetzen ab und brannte wie Feuer. Höllenqualen! Ich will nicht dran denken.

      In einer von Tante Gittes Zeitschriften las ich von einer Theorie, die behauptet, es sei heilsam, den Krebs nicht als Feind, sondern als Freund zu betrachten, weil er Teil des Körpers sei, und so sei es leichter, keinen Ekel, keine Ablehnung vor dem eigenen Körper zu empfinden. So schräg das auch klingt, ich habe mich darauf eingelassen, mit meinen Metastasen gesprochen, als seien sie lebendige Wesen, imstande mich zu hören, mir zu antworten, und ich redete mir geduldig ein, dass sie verschwinden würden, wenn ich nur nett zu ihnen wäre.

      Hallo liebe Metastasen, schön, dass ihr zu mir gefunden habt, fühlt euch wohl bei mir! Soll ich euch Namen geben, damit wir ein bisschen persönlicher miteinander kommunizieren können? Wie viele seid ihr, wie viele Namen braucht ihr?

      Nur wenige Tage habe ich das Theater durchhalten können. Wie kann ich etwas mögen, das mich von innen auffrisst und sich von meinen Knochen und meiner Angst ernährt? Ich brach ab und versuchte eine andere Strategie. Gleichgültigkeit. Die Vorstellung, alle Absiedelungen in meinen Knochen und in der Lunge könnten schrumpfen, wenn ich ihnen nur ein ordentliches Maß Desinteresse entgegenbringen würde, erschien mir etwas leichter durchführbar als die Sache mit der falschen Freundlichkeit. Aber, ganz ehrlich, es ist einfach nicht möglich, stumpf und ungerührt hinzunehmen, was mir Schmerzen bereitet und Wasser in die Lunge spült.

      Im Endeffekt bin ich dort gelandet, wo ich vor all diesen Versuchen war. Bei der Ablehnung. Krebs, ich will dich nicht. Ich hasse dich. Hau endlich ab, und LASS MICH LEBEN!

      Nachsatz: Ich werde den kümmerlichen Rest meines Lebens mit ihm verbringen. Daran geht kein Weg vorbei, und daher bleibt mir nichts anderes, als ihn zu dulden. Wie einen lästigen Mitbewohner, dessen Nähe man meidet, weil er sich nicht wäscht und seine stinkenden Klamotten überall herumliegen lässt.

      4

      Selma

      Ein letzter Zug an der zur Hälfte gerauchten Zigarette. Vor Jahren hatte sie es einmal für vier Wochen mit großer Anstrengung geschafft, nicht mehr im Auto zu rauchen. Die Kombination Autofahren und Rauchen löste aber ein solches Wohlbefinden in Selma aus, dass sie nicht darauf verzichten wollte. So hatte sie ihr Vorhaben als Schnapsidee verworfen und nie wieder aufgegriffen.

      Sie parkte an der Mauer, stellte den Motor ab und schloss für einen Moment die Augen mit den perfekt getuschten Wimpern, während sie den Rauch durch das geöffnete Seitenfenster blies. Eine Schande um die nur halb gerauchte Zigarette, aber Selma fand, es gehörte sich nicht, auf dem Friedhof zu rauchen. Sie öffnete die Fahrertür und schnippte den Zigarettenrest nach draußen. Mit der anderen Hand klappte sie die Sonnenblende ein, nicht ohne den gewohnheitsmäßigen Blick in den kleinen integrierten Spiegel. Sie überprüfte Kajal- und Lippenstift und ordnete ihre Haare, die der Fahrtwind durcheinander gebracht hatte. Neuerdings trug sie sie kinnlang und hellblond gefärbt, was sie jünger aussehen ließ. Selma hob und senkte den Kopf, um möglichst viel in dem kleinen Spiegel sehen zu können. Als sei ihr Aussehen in der nächsten Viertelstunde von entscheidender Bedeutung. Schließlich griff sie nach ihrer Tasche auf dem Beifahrersitz und stieg aus dem Wagen. Aus dem Kofferraum nahm sie eine Tonschale, in die sie Fächerblumen und Zauberschnee hatte pflanzen lassen. Ein Rausch aus weißen und lilafarbenen Blüten, sehr hübsch, beinahe zu schade für den Friedhof.

      Die Absätze ihrer Pumps versanken bei jedem Schritt zur Hälfte im Kies, als sie dem Weg zum Grab ihres Vaters folgte. Es befand sich in unmittelbarer Nähe einer Hecke, die die einzelnen Grabreihen voneinander trennte. Der Friedhofsgärtner, den Selma mit der Pflege der Grabstelle betraut hatte, erledigte seine Arbeit gewissenhaft, wie sie zufrieden feststellte. Sorgfältig beschnittener Kriechwachholder, blühende Hornveilchen, aufgeharkte Graberde ohne Unkraut, kein Moos auf dem Grabstein. Sie platzierte die Pflanzschale auf der Steinplatte in der Mitte des Grabes, drehte sie etwas, zupfte zwei welke Blättchen ab, erhob sich und trat einen Schritt zur Seite.

      »Für dich, Papa.«

      Seit zwanzig Jahren begrüßte sie ihren Vater an seinem Sterbetag mit den immer gleichen Worten. Es waren die einzigen, die ihr über die Lippen kamen. Schon zu seinen Lebzeiten hatte es nie Plaudereien zwischen ihnen gegeben oder gar Albernheiten, wie sie es manchmal bei Freundinnen und ihren Vätern beobachtet hatte. Nie hatte Selma mit ihrem Vater darüber gesprochen, womit sie sich gedanklich beschäftigte. Es zu versuchen, wäre ihr gar nicht in den Sinn gekommen, denn schon als kleines Mädchen hatte sie gelernt, dass ihrem Vater nur eine bestimmte Menge Worte zur Verfügung stand und er sie sparsam einsetzte. Zum Beispiel beim Vorlesen. Stunde um Stunde hatte Emil Molander damit zugebracht, seine Töchter mit den großen Schriftstellern und Poeten der Weltliteratur vertraut zu machen. Er war nicht müde geworden, Selma die Geschichten von Nils Holgersson und den Wildgänsen vorzulesen, kaum dass sie alt genug gewesen war, länger als eine halbe Stunde in seiner reich ausgestatteten Bibliothek zu sitzen und ihm zu lauschen. Als Dreijährige verstand sie bereits, dass sie dabei nicht auf dem mit dunkelgrünem Velours bezogenen Diwan herumzuturnen, sondern still und andachtsvoll dazusitzen hatte, umgeben von bis zur Zimmerdecke reichenden Regalen, in denen sich, sortiert nach einer Ordnung, die sich Selma erst später erschloss, Werk an Werk reihte. Wie ein König erschien Emil Molander seiner Tochter in seinem ausladenden, cognacfarbenen Lesesessel, ein aufgeschlagenes Buch in den großen Händen haltend. Selma sog die sonore Stimme ihres Vaters in sich auf, denn zu keiner anderen Zeit bot sich die Gelegenheit, sie so lange zu vernehmen wie während ihrer Vorlesestunden in der Bibliothek. Später, kaum dass Selma dem Nils-Holgersson-Alter entwachsen war, griff Emil Molander zur Erwachsenenliteratur ihrer Namensgeberin. Voller Ehrfurcht beobachtete Selma, wie ihr Vater die Leiter am entsprechenden Regal positionierte und sie erklomm, um das gesuchte Lagerlöf-Werk zielsicher aus der Bücherreihe zu ziehen.

      Sein Daumen strich jedes Mal sanft über den Einband, bevor er seiner Tochter das Buch mit den Worten »Gib mir schön acht, dass nichts dran kommt!« überreichte. Wie eine Liebkosung erschien