sie raunen und flüstern
sie säuseln und wispern
vor menschenaug’ verborgen
gestern, heut und morgen
trägt sie der wind
hörst du mein Kind
ihren ewigen hauch
in halmen und rauch
windgeister singen im dünengras
ihr ewiges lied
mit stimmen aus glas
1
Jane
Sie hatte nicht vorgehabt, das Geschriebene noch einmal zu lesen, sondern den Briefbogen gleich zusammenfalten und im ersten Kuvert verschwinden lassen wollen. Es war an Selma Melchior adressiert, ihre zehn Jahre ältere Schwester.
Das Vorhaben scheiterte. Janes Blick glitt über die Zeilen, die sie soeben niedergeschrieben hatte.
Liebe Selma, liebe Mascha,
wisst Ihr, dass es für den richtigen Zeitpunkt im Leben einen Begriff gibt? Ein Pater, mit dem ich in Afrika zusammengearbeitet habe, lehrte ihn mich. Kairos. Der bestmögliche Zeitpunkt für das Treffen einer Entscheidung oder für eine Gelegenheit, die man erkennen und nicht verstreichen lassen sollte. Es geht also nicht nur darum, diesen Zeitpunkt zu erkennen, sondern vor allem, ihn nicht ungenutzt dahinziehen zu lassen und im besten Fall etwas Gutes daraus zu machen.
Für mich fühlen sich diese Tage kurz vor Papas zwanzigstem Todestag an wie mein persönlicher Kairos. Und nur deshalb kann ich Euch schreiben.
Bei seiner Beisetzung waren wir zum letzten Mal zu dritt. Ich war Mitte zwanzig. Alt genug, dachte ich damals, um in ganzer Tragweite zu verstehen, was es bedeutet, plötzlich nicht mehr nur ohne Mutter, sondern auch ohne Vater zu sein. Mein Dasein als Tochter war beendet. Offiziell beendet. Danach angefühlt hat es sich ja schon lange vorher. Sie mochten mich nie so wie Euch, vielleicht war nach zwei Kindern für das Jüngste einfach nicht mehr so viel Liebe übrig. Und nach Papas Tod verlor ich auch Euch. Ich fühlte mich entwurzelt. Heimatlos. Abgeschnitten. Niemandem mehr zugehörig. Die Erkenntnis tat weh, obwohl ich mich zu diesem Zeitpunkt schon längst nicht mehr als Teil unserer Familie gefühlt hatte. Aber mit Papas Tod wurde ein Band durchschnitten, das uns trotz der räumlichen Trennung bis dahin zusammengehalten hatte. Wahrscheinlich war dies der Grund, warum ich einen anderen als den »üblichen« Weg gewählt habe, fortging, mein Leben fernab von Euch und von den Gräbern unserer Eltern lebte, die ich beide nie so betrauern konnte, wie ich glaubte, dass eine Tochter es tun sollte. Konntet Ihr es?
Hätte ich Tante Gitte nicht gehabt, wäre ich vielleicht im Ausland geblieben. Wegen ihr kam ich immer wieder zurück, wie ein Schiff in seinen Heimathafen.
Das Zeitrad läuft weiter. Weder kann ich es zurückdrehen, um Versäumtes nachzuholen, noch es anhalten, in der Hoffnung, die Dinge dann besser zu verstehen. Dabei wünsche ich mir nichts mehr als das! Ich möchte die Zeit festhalten mit ganzer Kraft, damit ich die Möglichkeit habe, zu begreifen, warum die Dinge sich so entwickelt und wir einander aus den Augen verloren haben.
Manchmal beobachte ich Frauen auf der Straße, im Supermarkt, in der Warteschlange am Flughafenschalter, und ich frage mich, ob Du es bist, Mascha, oder Du, Selma. Würde ich nach all den Jahren noch etwas von denen, die Ihr wart, als ich Euch zum letzten Mal gesehen habe, erkennen?
Möglicherweise überrumpele ich Euch mit diesem Brief. Bitte entschuldigt, falls es so sein sollte. Wahrscheinlich hoffe ich, dass Ihr inzwischen ähnlich denkt und fühlt wie ich und dass Euch die Lieblosigkeiten leidtun, die ausgesprochen wurden. Nur deshalb kann ich Euch schreiben, wegen der Hoffnung – und Euch einladen nach Lakolk. Tante Gittes Sommerhaus ist angefüllt mit guten Erinnerungen, mit den Gerüchen und dem Lachen unserer Kindheit. Gibt es einen besseren Ort für ein Wiedersehen? Hier ist alles bereit für Euch. Wenn Ihr mit dem Zug anreist und abgeholt werden müsst, setzt Euch mit Tante Gitte in Verbindung, sie wird sich kümmern. Ihre Handynummer findet Ihr am Ende dieses Briefes.
Ich bin übrigens schon dort, in Tante Gittes kleinem Haus am Meer, und ich schreibe diese Zeilen auf der Veranda, an dem Holztisch, auf dem wir seinerzeit unsere Muscheln ausgelegt haben, nachdem wir mit gefüllten Eimern vom Strand gekommen waren. Die Sonne wärmt meine Hände, und im Strandhafer wispern die Windgeister wie früher, erinnert Ihr Euch?
Ich wünsche mir, noch einmal mit Euch am Muscheltisch zu sitzen und Euch den Sand aus den Haaren zu kämmen, wenn Ihr vom Schwimmen zurückkommt.
In Erwartung, mit Hoffnung und großer Vorfreude
Jane
Erneut wanderte ihr Blick zu den Worten über den Kairos. Klangen sie zu theatralisch? Hätte sie eine Erklärung hinzufügen sollen? Absichtlich hatte sie auf Einzelheiten verzichtet und es vermieden, die Wahrheit bei ihrem bösartigen, unheilbaren Namen zu nennen. Mitleid zu wecken, lag ihr fern, es sollte nicht der Grund für ihre Schwestern sein, der Einladung zu folgen.
Sie sank im Stuhl zurück und schloss die Augen, die rechte Hand schützend auf dem Bogen Papier. Eine Windböe zerrte an den Ecken, hätte genügend Kraft, Selmas Brief in einem einzigen Augenblick vom Tisch zu heben und mitzunehmen, wenn Janes Hand sie nicht daran hindern würde. Dies vermochte sie gerade noch – einen Bogen Papier vor dem Wind zu retten.
Ich nenne mich wieder Jane, gesprochen, wie man es schreibt … hätte sie gern dazugesetzt, so wie Mama mich nannte, weil sie die englische Form des Namens nicht mochte.
Die Junisonne strich über ihr Gesicht. Ein vergänglicher Moment von Wärme, bevor die nächste Brise wieder ihre Stirn kühlte. Sie ließ die Enden des Tuches flattern, das Jane sich um den Kopf geschlungen und hinter dem Ohr verknotet hatte. Baumwolle, handgewebt, braun, ockergelb, dunkelrot. Jane ließ ihre Hand über den Stoff gleiten, und die Erinnerungen holten sie ein.
Das Tuch hatte einer jungen Frau aus dem Südsudan gehört, einer Dinka. Ihr Name war Nyakuma, sie