All die ungelebten Leben. Michaela Abresch. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Michaela Abresch
Издательство: Readbox publishing GmbH
Серия:
Жанр произведения: Современная зарубежная литература
Год издания: 0
isbn: 9783862827350
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zu entlassen, sie auszusprechen und dem Menschen, an den sie gerichtet waren, abzuverlangen, sich damit auseinanderzusetzen, ließ Janes Blut jetzt in einem wilden Strom durch ihre Adern rauschen.

      »Deshalb brauche ich deine Unterstützung, Tante Gitte. Vielleicht erschreckt dich, was du jetzt hören wirst. Wenn das so ist, tut es mir unglaublich leid, das musst du mir glauben. Ich will dir keine Angst machen.«

      »Lieber Himmel, Jane, wir haben in den letzten Jahren so vieles gemeinsam durchgestanden! Ich glaube nicht, dass mich noch irgendetwas aus der Bahn werfen kann.«

      Jane schätzte die resolute Art ihrer Tante, auch wenn sie dadurch gelegentlich etwas bärbeißig wirkte. Das war sie nicht. Gitte war die liebevollste Frau, die Jane kannte. Sie kleidete ihre Warmherzigkeit nur gern in einen schroff gestrickten Mantel, weil ihre Seele ohne ihn jämmerlich erfrieren würde. Er war ihr Schutz, das wusste Jane, und deshalb nahm sie ihr die mitunter bissig klingenden Bemerkungen nicht übel. Mit Gittes Art, den Dingen furchtlos und forsch zu begegnen, war Jane in den letzten Jahren gut gefahren. Nicht auszudenken, wenn ihre Tante bei jeder neuentdeckten Metastase, bei jedem weiteren desas­trösen Laborbefund, bei jeder neu hinzugekommenen Nebenwirkung weinend zusammen gebrochen wäre.

      Mit einem Arm umschlang Jane die angezogenen Beine. Sie wandte ihrer Tante das Gesicht zu und sah, dass diese sich die silbergraue Strähne, die sich so gern aus der Spange löste, hinters Ohr strich. Die tropfenförmigen Bernsteinohrringe, die Jane ihr vor Jahren zu Weihnachten geschenkt hatte, schmückten ihre Ohrläppchen.

      »Hör dir an, was ich dir erzähle«, sagte Jane, »aber gib mir nicht direkt eine Antwort. Denk zuerst darüber nach.«

      Gitte nickte, trank einen Schluck Kaffee, blickte Jane fest ins Gesicht.

      »Wir leben zusammen, seit ich zehn Jahre alt war«, sagte Jane. »Während meiner Auslandseinsätze nicht mehr regelmäßig, aber ich hatte auch während dieser Zeit immer einen Hafen bei dir. Bei dir war mein Platz zum Ankerwerfen. Das, was man Zuhause nennt. Und auch dies hier, dein kleines Haus am Meer, ist ein Zuhause für mich. Du hast mit meinen Schwestern und mir viel Zeit hier verbracht, damit wir wenigstens für eine Weile dem Desaster daheim entkommen konnten. Es war dir immer wichtig, mich zu beschützen, aber so ganz kann man Kinder wohl nicht vor der Realität abschirmen, die in ihrem Elternhaus vorherrscht.

      Was Mama und Papa mir mitgegeben haben, hat mich geprägt, aber durch dich konnte ich die werden, die ich heute bin.« Jane nippte an ihrem Tee, um die Trockenheit in ihrem Mund zu vertreiben. Sie legte wie Gitte ihre beiden Hände schützend um den Becher. Die Worte waren aus der Tiefe ihres Herzens aufgestiegen und ohne großes Zutun über ihre Lippen geflossen. Gitte hielt ihren Blick unverwandt auf Janes Gesicht gerichtet, sie sagte kein Wort, aber in ihren Augen sammelten sich Tränen.

      »Du hast mir etwas Wichtiges beigebracht«, fuhr Jane fort, »nämlich immer so zu leben, wie es mir selbst, meinen Bedürfnissen entspricht. Das hat dazu geführt, dass ich nicht in irgendeiner Klinik in Deutschland gearbeitet habe und es bequem und sicher hatte, sondern dass es mich in risikoreiche Länder verschlagen hat und ich organisatorische Unannehmlichkeiten in Kauf nehmen musste. Aber meine Arbeit in den Hilfsprojekten hat mich zutiefst erfüllt. Sie war genau das, was ich machen wollte. Du hast mich ermutigt, ein möglichst unabhängiges Leben zu leben, eins, das mein eigenes und nicht das eines anderen ist.«

      Sie lächelten einander an. Eine Träne rollte über Gittes Wange, sie rieb sie fort, und Jane sah, dass sie die Lippen zusammenpresste, um das Zittern zu unterdrücken.

      »Auch den Entschluss, nicht länger mit Chemie gegen den Krebs zu kämpfen, habe ich selbstbestimmt getroffen. Du weißt, dass mich kein Arzt und keine Klinik der Welt mehr zu irgendwelchen Therapien überreden werden. Therapien, die meine Lebenszeit vielleicht um ein paar Wochen verlängern, mir aber gleichzeitig die Möglichkeit nehmen, so etwas wie das hier noch einmal erleben zu können. Und so frei und selbstbestimmt, wie ich gelebt habe, möchte ich auch sterben.«

      Eine Brise strich durch die Gräser, kühlte ihre Gesichter, raschelte im Strandhafer und brachte die rot-weiße Fahne in Henriksens Garten dazu, sich ein paar Mal müde zu bewegen. Die Sonne stieg. Aus einem der umliegenden Ferienhäuser hörten sie einen Säugling schreien.

      »Was meinst du damit?« Gitte veränderte ihre Sitzposition, wandte ihren Oberkörper mehr in Janes Richtung, sodass sie ihre Nichte ansehen konnte, ohne den Kopf zur Seite zu drehen. In einer Geste der Ungeduld rieb sie sich mit dem Handrücken über beide Augen. »Du denkst über Sterbehilfe nach?«

      Jane schüttelte den Kopf. »Dann hätten wir uns auf ein anderes Reiseziel verständigen müssen.«

      »Was dann?«

      »Ich möchte nicht so sterben wie Mama.« Das Kindergeschrei verebbte. Auf dem Dünenpfad, der hinter dem Grundstück entlang verlief, erkannte Jane zwei Feriengäste, die ihren Hund spazieren führten, einen schwarzen Labrador. Die Nase ins Gras gedrückt lief er ihnen voran.

      »Auch wenn ich nicht auf viele Erinnerungen an die schlimmen Jahre zurückgreifen kann, weiß ich doch, dass sie warten musste. Auf den Tod. Ich war damals zu jung, um das alles im ganzen Ausmaß zu verstehen. Wenn du mit mir zu Besuch hingefahren bist, beschränkte sich mein Kontakt zu Mama auf höchstens eine Viertelstunde. Ich konnte nichts mit dieser Gestalt anfangen, die einmal meine Mutter gewesen war und plötzlich nur noch mit weit aufgerissenen Augen an die Decke starrte und nicht mal mehr den kleinen Finger rühren, geschweige denn ein Wort sprechen konnte. Meine letzte Lebenszeit so verbringen zu müssen, ist eine unerträgliche Vorstellung für mich, Tante Gitte. Und Abwarten ist sinnlos. Mir läuft die Zeit davon. Ich werde nicht mehr gesund, und es wird kein Wunder geschehen!«

      Ihre Zunge klebte am Gaumen fest, wie immer, wenn sie viel redete. Dass sie über ihr Lebensende sprach, machte es nicht leichter. Ein Schluck Tee vertrieb das unangenehme Gefühl. »Die Tage, in denen ich an ein Wunder geglaubt habe, sind vorbei«, fügte sie leise hinzu. Noch immer ruhte Gittes Blick auf ihr.

      »Ich verstehe dich«, sagte sie. »Wer sucht sich schon freiwillig ein langes Siechtum aus? Auch deine Mutter hätte es nicht getan, aber sie wurde nicht gefragt.«

      »Ich werde auch nicht gefragt, aber ich kann versuchen, es abzuwenden.« Jane stieß ein abgehacktes, trockenes Husten aus, das ihr kaum Möglichkeit ließ, genug Luft zu holen, und das sich allmählich steigerte.

      »Ich hole das Morphin, bleib sitzen und mach deine Atemübung«, sagte Gitte knapp. Rasch erhob sie sich, verschwand im Haus und erschien kurz darauf mit einer Spritze, die sie Jane auf der ausgestreckten Handfläche entgegenhielt.

      »Willst du selbst?«, fragte sie. Jane nickte. Sie nahm ihrer Tante die Spritze aus der Hand, zog die Kappe von der Kanüle und injizierte sich fünf Milligramm Morphin in eine Hautfalte der Bauchdecke, die diese Bezeichnung kaum noch verdiente.

      »Lass uns zusammen atmen«, sagte Gitte. Wie oft hatte sie Jane in den letzten Monaten dazu aufgefordert! Lass uns zusammen atmen … Und wie routiniert sie inzwischen ihren eigenen an Janes Atemrhythmus anpassen konnte und gleichzeitig die Dauer der Ausatmung mit leicht aufeinander liegenden Lippen vorgab. Nach einer Weile begann das Morphin zu wirken. Jane atmete ruhiger.

      »Wollen wir später weiterreden?«, fragte Gitte.

      Energisch schüttelte Jane den Kopf. »Geht schon.«

      »Also gut«, sagte Gitte. »Du sagtest, es geht nicht um Sterbehilfe. Was ist es dann?«

      »Es nennt sich Sterbefasten.«

      »Und was soll das sein?« Gitte runzelte die Stirn.

      »Man fastet sozusagen in den Tod hinein.«

      »Entschuldige, wenn ich dir gerade nicht folgen kann«, sagte Gitte, darum bemüht, Janes Antworten einen hinreichenden Sinn beizumessen.

      »Man hört auf zu essen und zu trinken. Damit man sterben kann.« Jane senkte die Stimme, weil leises Sprechen sie weniger anstrengte.

      Gittes Augen wurden schmal wie kleine Schlitze. »Eine Art Selbstmord?« Offensichtlich fiel es ihr schwer, das Gehörte in Einklang mit den Gedanken in ihrem