Als er sich hinabtastete, rutschte er aus und stolperte auf den Stufen, die für menschliche Füße viel zu klein waren. Er stützte sich mit einer Hand an der Wand ab und erlangte wieder das Gleichgewicht. Mit Schrecken dachte er an einen Fall in unbekannte, unerleuchtete Tiefen. Die Stufen waren in soliden Fels gehauen, jedoch sehr abgenutzt. Je tiefer er gelangte, desto schlechter wurden die Stufen. Plötzlich änderte der Schacht die Richtung. Zwar führte er immer noch hinunter, jedoch in einem solchen flachen Winkel, daß er mit gegen die Wände gestützten Ellbogen und gesenktem Kopf gehen konnte. Die Stufen hatten überhaupt aufgehört, und der Stein fühlte sich schleimig an wie das Lager einer Schlange. Bran fragte sich, was für Geschöpfe wie viele Jahrhunderte hindurch den Gang benutzt haben mochten.
Der Tunnel verengte sich, bis Bran Schwierigkeiten bekam, sich durchzuzwängen. Er legte sich auf den Rücken und schob sich, mit den Füßen voran, weiter. Tiefer und tiefer sank er in die Eingeweide der Erde und wagte nicht daran zu denken, wie weit die Oberfläche entfernt war. Da bemerkte er weit vor sich einen gespenstischen Lichtschimmer. Er grinste grimmig. Wenn Sie ihn plötzlich überraschen sollten – wie konnte er sich da zur Wehr setzen? Aber er hatte jegliche persönliche Furcht hinter sich gelassen, als er seine Suche begann. Er kroch weiter und dachte an nichts anderes als an sein Ziel.
Da gelangte er endlich in einen riesigen Raum, in dem er sich aufzurichten vermochte. Das Dach der Höhle konnte er nicht ausmachen, aber er gewann den Eindruck ungeheurer Größe. Die Dunkelheit drückte von allen Seiten gegen ihn, und hinter sich erkannte er den Eingang zum Schacht, aus dem er soeben gekrochen war – ein schwarzer Fleck in der Dunkelheit. Aber vor ihm gloste ein gespenstischer Schein um einen grausigen Altar, der aus menschlichen Schädeln errichtet war. Die Quelle des Lichtes vermochte er nicht auszumachen, aber auf dem Altar lag ein matter, nachtschwarzer Gegenstand – der Schwarze Stein!
Bran verlor keine Zeit. Er packte den Stein, klemmte ihn unter den linken Arm und kroch in den Schacht. Wenn man einer Gefahr den Rücken kehrt, wirkt ihre beklemmende Drohung viel stärker, als wenn man darauf zugeht. So fühlte auch Bran, als er sich mit seiner Beute durch den Tunnel schob, wie die Dunkelheit hinter ihm her kroch. Kalter Schweiß bedeckte seinen Körper, und er beeilte sich, sosehr er es vermochte. Angestrengt lauschte er nach irgendwelchen Geräuschen, die ihm verrieten, daß ihm Verfolger auf den Fersen waren. Immer wieder schüttelte es ihn, und die Haut am Hinterkopf prickelte, als bliese ein kalter Wind darüber.
Als er die ersten winzigen Stufen erreichte, hatte er das Gefühl, an den Grenzen der Welt der Sterblichen angelangt zu sein. Stolpernd und rutschend eilte er sie hinan, bis er mit einem Seufzer der Erleichterung die Grabkammer betrat, deren geisterhaftes Halbdunkel im Vergleich zu den höllischen Tiefen, in denen er sich befunden hatte, wie der grelle Schein des Mittags wirkte. Er legte den Mittelstein an seinen Platz zurück und gelangte durch den Tunnel an das Licht des Tages. Niemals war ihm das Licht der Sonne willkommener gewesen als jetzt. Er wälzte den Felsblock an seinen Platz zurück, hob den Umhang auf, den er am Eingang in den Hügel zurückgelassen hatte, wickelte den Schwarzen Stein hinein und eilte davon. Ekel und Abscheu erschütterten seine Seele und verliehen seinen Schritten Flügel.
Graue Stille brütete über dem Land. Es war so öde wie die Landschaft des Mondes, und doch spürte Bran unter seinen Füßen in der braunen Erde sich regendes Leben – zwar noch schlafend, aber bald erwachend. Und auf welche schreckliche Weise?
Durch dichtes, hohes Schilf gelangte er an einen stillen, tiefen See, der Dagon-See genannt wurde. Nicht die kleinste Welle kräuselte die Oberfläche des kalten, blauen Wassers und zeugte von der Existenz des schrecklichen Ungeheuers, das der Legende nach darin hausen sollte. Bran spähte aufmerksam um sich. Er sah kein Anzeichen von Leben – weder von menschlichem noch von unmenschlichem. Er horchte auf die Instinkte seiner wilden Seele, die ihm verraten sollten, falls unsichtbare Augen ihren Blick auf ihn gerichtet hatten, aber erhielt keine Antwort. Er war so allein, als wäre er der letzte Mensch auf Erden.
Rasch wickelte er den Schwarzen Stein aus, und als er ihn in der Hand hielt, trachtete er weder danach, das Geheimnis des Materials zu ergründen, noch die seltsamen Schriftzeichen darauf zu studieren. Er wog ihn prüfend in den Händen, schätzte die Entfernung ab und schleuderte ihn weit hinaus, so daß er fast in der Mitte des Sees landete. Ein Aufspritzen, und dann schlossen sich die Wasser darüber. Einige Augenblicke lang blitzte es wellenförmig auf der Oberfläche auf, dann lag sie wieder still und unberührt da.
*
DIE WER-FRAU FUHR HERUM, als Bran sich ihrer Tür näherte. Ihre schräggestellten Augen weiteten sich.
„Du! Und am Leben! Und bei klarem Verstand!“
„Ich war in der Hölle, und ich bin zurückgekehrt“, grollte er. „Und was wichtiger ist – ich habe das, wonach ich gesucht.“
„Den Schwarzen Stein?“ rief sie. „Du hast wirklich gewagt, ihn zu stehlen? Wo ist er?“
„Das spielt keine Rolle. Aber in der vergangenen Nacht schrie mein Hengst im Stall, und ich hörte etwas unter seinen schlagenden Hufen knirschen, und es war nicht die Wand des Stalles. Und als ich nachsah, fand ich Blut an seinen Hufen und am Boden. Und ich habe verstohlene Schritte in der Nacht gehört und Geräusche unter dem Erdboden der Hütte, als grüben Würmer tief in der Erde. Sie wissen, daß ich den Stein gestohlen habe. Hast du mich verraten?“
Sie schüttelte den Kopf.
„Ich habe dein Geheimnis bewahrt. Sie bedürfen nicht meines Wortes, um dich zu kennen. Je weiter sie sich von der Welt der Menschen entfernt haben, desto größer sind ihre Kräfte auf anderen, unheimlichen Gebieten geworden. Eines Morgens wird deine Hütte leerstehen, und falls es jemand wagen sollte, nachzusehen, wird er nichts finden außer Erdklumpen auf dem Boden.“
Bran lächelte grimmig.
„Ich habe nicht geplant und geschuftet, um jetzt den Klauen des Ungeziefers zum Opfer zu fallen. Sollten Sie mich des Nachts töten, so werden Sie nie erfahren, was aus ihrem Idol – oder was immer es sein mag – geworden ist. Ich möchte mit Ihnen sprechen.“
„Wagst du es, mir zu folgen und ihnen in der Nacht gegenüberzutreten?“ fragte sie.
„Beim Donner der Götter!“ knurrte er. „Wer bist du, mich zu fragen, was ich wage? Führe mich zu Ihnen und laß mich heute nacht mit Ihnen über meine Rache verhandeln. Die Stunde der Vergeltung nähert sich. Ich sah heute silbrige Helme und glänzende Schilde jenseits der Sümpfe blitzen. Der neue Kommandant ist am Turm eingetroffen, und Caius Camillus befindet sich auf dem Marsch zum Limes.“
In jener Nacht ging der König mit der Wer-Frau über die düstere Einöde der Moore. Die Nacht war dicht und reglos. Die Sterne blinkten undeutlich, rote Punkte nur, die kaum die unbewegte Dunkelheit durchdrangen. Ihr Glanz war schwächer als das Glitzern in den Augen der Frau, die neben dem König einherglitt. Sonderbare Gedanken überfluteten Bran – undeutliche, ursprüngliche Gedanken. Heute nacht rührten sich uralte Erinnerungen an diese schlummernden Sümpfe in seiner Seele und beschworen die Träume verschleierter Äonen herauf. Das ungeheure Alter seiner Rasse lastete auf ihm. Wo er nun einherging, hatten dunkeläugige Könige in den frühen Zeiten geherrscht, deren Aussehen er geerbt hatte. Verglichen mit seinem Volk, waren die keltischen und römischen Eroberer Fremde auf dieser uralten Insel. Dabei war sein Volk ebenfalls als Eroberer gekommen, war auf eine noch ältere Rasse gestoßen, deren Ursprung sich im Vergessen verlor.
Vor ihnen erstreckte sich eine niedrige Hügelkette, die östlichsten Ausläufer des Hügellands, das weit im Westen zu den Bergen von Wales emporkletterte. Die Frau folgte einem Weg, der ein Hirtenpfad sein mochte, und hielt vor einer schwarzen, gähnenden Höhle an.
„Ein Tor zu jenen, die du suchst, o König!“ Ihr Lachen klang voll Haß in der Dunkelheit. „Wagst du einzutreten?“
Seine Finger krallten sich