WER WIR SIND
Bevor es jedoch weitergeht, wollen wir Autorinnen uns erst einmal vorstellen. Wir sind Stefanie Stahl und Julia Tomuschat und haben uns vor dreißig Jahren am Kaffeeautomaten vor einem Hörsaal an der Uni Trier kennengelernt. Seit damals sind wir miteinander befreundet. Wir haben zusammen das Psychologiestudium absolviert und auch später immer den Kontakt gehalten, obwohl es uns in unterschiedliche Regionen Deutschlands verschlagen hat. Seit zirka acht Jahren helfen wir den Teilnehmer/innen unserer Workshops und unseren Klienten dabei, beziehungsfähiger zu werden. Als Beziehungsexpertinnen wollen wir unser Wissen und unsere Erfahrungen endlich auch auf die Elternschaft und Erziehungsfragen übertragen, und das nicht nur, weil Julia inzwischen zwei halbwüchsige Kinder hat, sondern vor allem, weil Mütter und Väter uns immer wieder darum gebeten haben.
Noch eine Anmerkung: Eine Freundin von uns sagte einmal: »Bücher, in denen ich geduzt werde, lese ich nicht.« Sie findet, zwischen Autor und Leser sollte eine gewisse Distanz bestehen bleiben. Da sind wir allerdings anderer Meinung. Wir wollen gerne eine Brücke zu unserer Leserschaft bauen. Zudem haben wir festgestellt, dass sich die meisten Eltern sowieso duzen, egal ob sie sich auf dem Spielplatz oder beim Elternabend begegnen. Es scheint hier die natürliche Form der Ansprache zu sein. Da würden wir uns gerne anschließen, deshalb wählen wir auf den folgenden Seiten die Du-Form.
Einen besonderen Dank wollen wir an dieser Stelle auch unserer Freundin, der Psychotherapeutin Helena Muser, aussprechen. Sie stand unserem Manuskript mit ihrem Expertenwissen über Kinderpsychologie beratend beiseite. Auch bei unserer Lektorin Carola Kleinschmidt bedanken wir uns für ihre hervorragende Arbeit.
Mit diesem Buch wollen wir eine Einladung aussprechen. Eine Einladung an dich, ein bisschen Abstand von deiner Elternrolle einzunehmen und ganz entspannt, vielleicht bei einem Cappuccino, über eine deiner wichtigsten Beziehungen nachzudenken: über die Beziehung zu deinem Kind beziehungsweise zu deinen Kindern. Eine Beziehung, die auch für dich sicherlich höchstes Glück, tiefste Sorge und manchmal extreme Anstrengung mit sich bringt. Du liest also gerade keinen Erziehungsratgeber, sondern einen Beziehungsratgeber, und zwar einen Beziehungsratgeber für die Eltern-Kind-Beziehung. Da es sich nicht um einen typischen Erziehungsratgeber handelt, werden wir dich auch nicht mit diesbezüglichen Ratschlägen belästigen. Wir sind der Meinung, dass Mütter und Väter heutzutage sowieso schon Außerordentliches leisten. Es nutzt weder den Kindern noch den Eltern, wenn man ständig den »Richtigmachdruck« erhöht und Letzteren ein schlechtes Gewissen einimpft. Perfekte Eltern gibt es ebenso wenig wie perfekte Kinder. »Erziehen, ohne zu erziehen« bedeutet zuallererst, die Beziehung zu unseren Kindern und zu uns selbst zu reflektieren. Das ist leichter, als du denkst, extrem interessant und macht sogar Spaß. Wir können dir viele Aha-Erlebnisse in diesem Buch versprechen und dazu null erhobenen Zeigefinger. Letztlich geht es in einer guten Eltern-Kind-Beziehung darum, WENIGER zu TUN, dafür aber BEWUSSTER zu SEIN. Hierdurch können wir genauer erkennen, was unsere Töchter und Söhne tatsächlich benötigen. Und oft ist es dann ganz leicht, ihnen genau dies zu geben.
Auf den Punkt gebracht, wird es vor allem um »Halt geben und Freiheit schenken« gehen. Denn genau das sind die Fähigkeiten, die wir für die Erziehung unserer Kinder brauchen, damit wir ihnen Liebe schenken können, die ihnen Flügel verleiht und sie stark und mutig für ihr Leben macht.
WENN ES SO EINFACH WÄRE …
Alle Eltern wünschen sich natürlich, dass sie ihr Kind vom allerersten Tag an von Herzen lieb haben und dass sich dann alles andere irgendwie von alleine ergibt. Sie wünschen sich, dass ihr Kind zu einem glücklichen und beziehungsfähigen Erwachsenen heranwächst. Und tatsächlich ist die Fähigkeit der Eltern, ihr Kind so anzunehmen und lieb zu haben, wie es ist, eine Grundvoraussetzung dafür, dass Kinder ihre ureigene Persönlichkeit entwickeln, innerlich stark und zufrieden werden. Leider stellt sich das in der Theorie einfache »Wir haben uns lieb« in der Praxis so manches Mal als große Herausforderung dar. Ohne es zu wollen, folgen wir häufig in der Erziehung nicht unseren eigenen Vorstellungen, sondern geben wie fremdgesteuert die Erfahrung weiter, die wir selbst als Kinder gemacht haben.
Fast jeder von uns kennt das: Man wollte nie so sein wie die eigenen Eltern. Doch plötzlich steht man im Flur oder im Wohnzimmer und schreit die gleichen Worte heraus wie einst der Vater oder die Mutter.
Ein Beispiel soll dies verdeutlichen: Susanne sitzt mit ihrer achtjährigen Tochter Marie am Küchentisch und übt mit ihr das kleine Einmaleins. Die Mutter ist unterschwellig unruhig, weil sie noch ein wichtiges berufliches Telefonat führen müsste. Und als Marie zum fünften Mal hintereinander nicht weiß, dass sieben mal acht sechsundfünfzig ergibt, sagt Susanne genervt zu ihrem Kind: »Du bist zu dumm, um ein Loch in den Schnee zu pinkeln.« Kaum hat sie das gesagt, erschreckt sie sich sehr. Genau mit diesem Spruch hatte ihr Vater sie immer wieder verletzt.
Wie kann es dazu kommen, dass wir, wie auf Autopilot gestellt, genau die gleichen Sätze sagen wie früher der Vater oder die Mutter? Was hier wirkt, sind »transgenerationale Übertragungsphänomene« oder alltagssprachlich: Wir sind in einem alten Film gefangen. Wir machen das Verhalten unserer Eltern nach. Sie waren unser Vorbild für Elternschaft, und das hat uns so tief geprägt, dass wir – obwohl wir uns fest vorgenommen hatten, nie so zu werden wie sie – in Abwandlung genau das Gleiche tun. Vielfach haben wir uns sogar ein Gegenideal entworfen und achten akribisch darauf, alles richtig zu machen. Doch vor allem, wenn es stressig wird, schnappt die Prägungsfalle zu und wir behandeln unsere Kinder so, wie wir es nie wollten. Wir torpedieren unser Erziehungsideal und schreien beispielsweise die Kinder an, obwohl wir sie keinesfalls anschreien wollten. Es scheint so zu sein, als wäre unser Wille, anders zu handeln, nicht ausreichend. Und mit diesem Gefühl liegen wir auch richtig. Ein gutes Modell, um die Begrenztheit des Willens zu verstehen, ist der Elefantenreiter. Der Reiter, unser Wille, sitzt zwar oben und hat auch die Zügel in der Hand. Aber wenn der fünftausend Kilo schwere Elefant nicht will, hat der Reiter keine Chance, sich durchzusetzen. Der Elefant steht für unsere emotionalen und teilweise unbewussten inneren Vorgänge, welche ihrerseits stark durch die Erfahrungen beeinflusst sind, die wir in der Kindheit gemacht haben.
LERNEN IN DER DOPPELSTRUKTUR
Unsere Erfahrungen mit unseren Eltern sind durch eine Art doppeltes Erleben geprägt. Wir lernen sozusagen die zwei Seiten einer Medaille gleichzeitig kennen: Einerseits sind wir »Opfer« oder, neutraler ausgedrückt, »Empfänger« der Erziehungsbemühungen unserer Eltern. Andererseits lernen wir auch, wie es ist, »Täter« beziehungsweise »Erziehungsausübender« zu sein, weil die Eltern automatisch auch unser Vorbild sind, wenn wir selbst einmal Kinder haben. Wir spüren beispielsweise als Kind, wie schlimm es ist, von den Eltern beschimpft zu werden, wenn sie uns richtig anmeckern. Trotzdem lernen wir in dieser Situation beiläufig, am Vorbild unserer Eltern, »die Kunst« der Beschimpfung. Beides ist in uns abgespeichert. Unbewusst lernen wir also in einer Doppelstruktur. Auf der einen Seite sind wir als Kind Empfänger der Erziehungsbotschaft unserer Eltern und auf der anderen Seite lernen wir von ihnen zugleich, wie die Elternrolle auszufüllen ist. Als Kinder können wir uns gegen diese doppelte Botschaft nicht wehren. Unsere Eltern sind unser Kosmos, unser erster Einfluss und unsere große Liebe. Und sogar, wenn wir ganz bewusst entscheiden: »Ich