Ich sah kurz zu der Verkäuferin hinüber. Sie hatte mit den Brötchen noch eine Weile zu tun, daher drehte ich die Zeitung um. Mein Blick fiel auf die ausgezogene Schöne mit der Überschrift CINDY IST ES AUCH IM WINTER HEISS, wurde dann aber Cindys Schwindelerregender Kurven zum Trotz von etwas anderem abgelenkt.
Es war ein kleiner Artikel in der Ecke, der zu zwei Dritteln aus seiner Überschrift bestand.
Irgendein Splitter meines Bewusstseins hatte das Wort MÜNSTER wahrgenommen, was für mich Anlass genug war, mal nachzusehen.
Wenn Münster in diesem nationwide vertriebenen Revolverblatt erwähnt wurde, bedeutete das nicht mehr, aber auch nicht weniger, als dass hier mal wieder etwas geschehen war, was die Nation bewegte.
Dass Boris Becker hier noch ein uneheliches Kind hatte, wagte ich nicht zu hoffen, aber vielleicht war der Geisterfahrer von vorgestern drin.
Seit dem Westfälischen Frieden von 1648, der den dreißigjährigen Krieg beendet hatte, war die Stadt ziemlich aus den Schlagzeilen raus. Wurde also Zeit, dass hier mal wieder Geschichte geschrieben wurde.
EMPÖREND: DEUTSCHLANDS GEIZIGSTER POLITIKER!, stand da mit schreiendem Ausrufezeichen zu lesen. Und dann, etwas kleiner: ›Miese Tricks! Münsters OB zahlt keinen Cent an verarmte Ex-Frau!‹
Zwei kleine Fotos daneben. Eines zeigte die arme Ex-Frau mit einem hinlänglich verzweifelten Gesicht. Auf dem anderen war unser aller Oberbürgermeister zu sehen. Ich erkannte ihn jedoch erst auf den dritten Blick. Das Bild war schon ziemlich alt und stammte vermutlich aus dem Archiv der Ex-Frau. Ein Ausschnitt aus dem Hochzeitsfoto vielleicht.
Ich begann, den Artikel zu lesen: "Dr. Jürgen Werneck (52) hat es faustdick hinter den Ohren. Er ist Oberbürgermeister im westfälischen Münster und Inhaber einer Immobilienfirma. In der Großgarage seines schmucken Bungalows stehen ein silberfarbener Mercedes und ein blauer Jaguar. Doch seine Ex-Frau Brigitte (50) lebt in bitterer Armut. Seit ihr die Ein-Zimmer-Wohnung gekündigt wurde, muss sie in einem Obdachlosenasyl übernachten. Brigitte Werneck sagt: >Er hat kein Herz mehr für die Mutter seiner Kinder!<“
Danach war die Zeile unleserlich.
Irgendjemand hatte mit Schokoladenfingern auf die Zeitung gefasst. Aber morgen war das Blatt sowieso Altpapier.
"Hier sind die Brötchen!", drang die Stimme der Verkäuferin wie ein Messer durch meine butterweichen Gedanken.
Ich fuhr hoch. "Was?"
"Ja, dann bezahlen Sie jetzt wenigstens, damit ich endlich nach Hause komme!"
"Konfuzius sagt: Eile mit Weile", erwiderte ich, während ich die Euromünzen aus dem Portemonnaie kratzte.
Sie verzog das Gesicht. "Eile mit Weile − Langeweile!", versetzte sie schlagfertig.
Ich nahm die Brötchen. "Wiedersehen."
"Tschüss. Erzählen Sie mir morgen, was da drüben bei Ihnen genau passiert ist, ja? Das sind Sie mir schuldig!"
6
Das Haus glich einem wahren Taubenschlag. Ich saß in meiner Küche und hörte vom Treppenhaus her Stimmen und Schritte. Da war einiges los, aber ich hatte wenig Lust, mir das ausgiebig anzusehen, wie es zweifellos die beiden Frauen mit dem überaus ungewöhnlichen Namen Meyer jetzt taten. Nicht lange, und es gab auch wieder Strom.
Ich schüttete den Rest Kaffee, der sich noch in der Maschine befand, ins Spülbecken und setzte mir frischen auf.
Dann packte ich meine Brötchen aus und fragte mich, welches ich zuerst essen sollte.
Erst jetzt wurde mir bewusst, wie hungrig ich war. Seit dem ausgiebigen Frühstück, das ich in einem Kaufhausrestaurant genossen hatte, hatte ich außer reichlich Kaffee nichts zu mir genommen.
Manchmal ist das so.
Man sitzt an der Tastatur, sieht den Cursor auf dem Bildschirm blinken und es scheint einem so, als würde er einem unablässig zurufen: "Noch eine Zeile, noch eine Zeile! Nicht stehenbleiben! Nicht stehenbleiben!"
Und dann ist man wie unter Hypnose. Ein Wort nach dem anderen erscheint auf dem Bildschirm, bis der Strom der Bilder und Wörter (und manchmal leider auch jener der Elektrizität) plötzlich versiegt. Dann wird einem erst bewusst, wie viel Zeit vergangen ist und wann man zum letzten Mal etwas gegessen hat.
Ich habe oft darüber nachgedacht, was es ist, das einen treibt, eine Zeile nach der anderen zu füllen.
Sicher, da ist die Gewissheit, dass man letztlich immer nur soviel Geld auf seinem Konto finden wird, wie man Seiten geschrieben hat.
Außerdem weiß man nie, ob einem auch morgen noch etwas einfällt. Wenn die Einfälle also da sind, muss man das ausnutzen. Es könnte ja sein, dass man irgendwann mal in eine Krise kommt. Keine Bilder, keine Wörter, nichts mehr; Ende. Blackout.
So etwas gibt es. Aber es hat bei mir noch nie sehr lange gedauert. Ein paar Tage, meistens weniger.
Nein, das allein kann es nicht sein, was einen immer wieder treibt. Denn die Wahrheit ist, dass mir eigentlich immer etwas einfällt, wenn ich einigermaßen ausgeruht bin. Nicht unbedingt jedes Mal ein dichterischer Geniestreich, aber das erwartet auch niemand von mir.
Was ich mache, ist Handwerk, keine Kunst. Aber auch das will gut gemacht sein, oder?
Ich denke, es ist eine Form der Besessenheit, die einen immer wieder an die Tasten treibt.
Besessenheit, genau das ist das richtige Wort.
Ich fühle mich gut, wenn ich geschrieben habe. Ich fühle mich einfach gut, obwohl ich hinterher oft völlig fertig bin. Aber ich fühle mich gut. Und das ist es, worauf es ankommt, so sehe ich das.
Es ist eine Besessenheit. Ein Dämon, gegen den es keinen Exorzismus gibt.
Es gibt Leute, die bringen Menschen um und fühlen sich hinterher vielleicht auch gut. Oder hoffen zumindest, sich dadurch besser zu fühlen. Solche Leute nennt man Psychopathen, und man sperrt sie in Irrenanstalten ein. Andernorts kommen sie auf den elektrischen Stuhl.
Im Prinzip tun diese Leute nichts anderes als ich. Sie geben ihrer Besessenheit nach. Aber so ist das eben. Die eine Besessenheit bringt einen ins Loch, die andere lässt sich vermarkten.
Während ich mir ein Brötchen in den Rachen schob und ein kräftiges Stück davon abbiss, gingen meine Gedanken zurück zu Jake McCord und seinen Problemen mit einem furchtbar miesen und skrupellosen Rancher, der einen ganzen County unter seiner Knute hält ...
Fünf Seiten hatte Jürgen Lammers mir gestohlen, dieser dumme Hund! Er war jetzt tot, aber irgendwie hatte ich ihm deshalb trotzdem nur zur Hälfte verziehen. So bin ich eben: nachtragend und ungerecht.
Auch gegenüber Toten.
Aber es war nicht zu ändern, und ich würde gut daran tun, mich darauf zu konzentrieren, die Szene möglichst schnell wieder so hinzukriegen, wie ich sie schon einmal auf dem Papier gehabt hatte.
Ich nahm also die Kaffeetasse und ein Brötchen und ging zum Computer, schaltete Zentraleinheit und Bildschirm wieder an, wartete, bis der Computer seinen Scan-Disk durchgeführt hatte und wieder hochgefahren war, um schließlich die Datei mit dem überaus spannenden Anfang von ›Gnadenlose Wölfe‹ zu öffnen, diesem ›brandneuen Top-Western unseres beliebten Autors MIKE HELL. Realistisch, hart und voller Dramatik!‹
Ich schlürfte noch einmal an meinem Kaffee und stopfte den Rest meines Brötchens in mich hinein. Wahrscheinlich würde ich später noch eine Pizzeria heimsuchen.
Ich fing also wieder an, in die Tasten zu hauen. Ich mag so etwas nicht. Es ist eine Qual, eine Szene, die man geistig schon abgelegt hat, noch einmal erfinden zu müssen. Es ist einfach nicht kreativ, es ist nur ärgerlich. Und