»Mensch, gehen Sie bloß fort!«, donnerte Alexander. »Sonst passiert Ihnen noch was. Und lassen Sie sich hier nie mehr blicken.«
Diese Aufforderung ließ sich der Hundebesitzer nicht zweimal sagen. Er stotterte noch einmal eine Entschuldigung und war kurz darauf samt Köter, den man noch eine Weile kläffen hörte, im Wald verschwunden.
Aber auch von den beiden Pferden war nichts mehr zu sehen. Sie hatten sich wohl auf den Weg nach Hause gemacht, als niemand sich um sie gekümmert, hatte.
»Geht es wirklich wieder?«, erkundigte sich Alexander noch einmal bei Jenny.
»Ja, wirklich«, antwortete sie. »Nur der Schädel brummt halt noch ein wenig.«
»Sei froh, dass du den Reithelm getragen hast«, meinte Alexander. »Sonst hätte die Sache schlimmer enden können.«
»Hilf mir bitte auf die Beine!«, bat sie ihn.
»Selbstverständlich.«
Er stand auf, reichte ihr seine Hände und hob sie hoch. Und als sie sich plötzlich so nah gegenüberstanden und sich vor Aufregung noch leicht zitternd in die Augen sahen, konnte er nicht anders: Er nahm sie in seine Arme und küsste sie. Und Jenny erwiderte seinen Kuss wie in ihrem Traum in der vergangenen Nacht. Bis sie sich bewusst wurde, was sie tat. Da stemmte sie ihre Hände gegen seine Brust, löste ihre Lippen erschrocken aufstöhnend von seinen und schob ihn von sich.
»Bist du verrückt geworden?«, stammelte sie verwirrt. »Wie kannst du es wagen? Nutzt eine Situation wie diese schamlos aus!«
»War es denn so schlimm?«
Jenny senkte den Kopf. »Nein«, wisperte sie. »Das ist es ja gerade, was mich zugleich ärgert und erschreckt. Ich hätte es erst gar nicht zulassen dürfen.«
»Und doch hast du es getan!«
»Ich möchte mich ohrfeigen dafür.«
»Warum eigentlich?«
»Wegen Ted«, flüsterte sie, und jetzt traten ihr auch noch die Tränen in die Augen. »Ich hatte mir so fest vorgenommen, mich hier in Deutschland mit keinem Mann einzulassen. Nun bin ich kaum einen Tag hier, und schon lasse ich mich küssen. Und hatte im Grunde nicht einmal ein schlechtes Gewissen dabei.«
»Was davon zeugt, dass du diesen Ted vielleicht gar nicht so sehr liebst, wie du geglaubt hast«, vermutete Alexander.
»Ich weiß es nicht«, murmelte Jenny hilflos. »Ich weiß es wirklich nicht.«
»Dann lass es uns doch herausfinden«, schlug Alexander lächelnd vor.
»Wie denn?«
»Indem wir uns noch einmal küssen. Wenn du dann immer noch kein schlechtes Gewissen verspürst, weißt du, was los ist.«
»Lieber nicht«, meinte Jenny leise. »Ich muss das alles erst noch einmal in Ruhe überdenken. Vielleicht finde ich die Antwort auch so.«
Ihr Gespräch wurde unterbrochen. Ein Geländewagen, von Fürst Boris höchstpersönlich gelenkt, näherte sich von vorn und hielt wenig später neben ihnen an. Seine Durchlaucht kletterte heraus, erdolchte die beiden jungen Leute mit Blicken und fing - was auch sonst? - zu schreien an.
»Kann ich euch denn keine Minute aus den Augen lassen? Was habt ihr denn jetzt schon wieder angestellt? Wieso kehren die Pferde ohne ihre Reiter in den Stall zurück? Hätte ich Hertas Bitte doch nie nachgegeben und aus meinem Schloss ein Mädchenpensionat gemacht! Das habe ich nun davon! An den Rand eines Herzinfarktes werde ich getrieben! Also, was ist los?«
Alexander berichtete mit wenigen Worten, was sie gerade erlebt hatten. Fürst Boris, gereizt, wie er war, geriet nun völlig aus dem Häuschen.
»Schon wieder dieser Rietmüller mit seinem verdammten Hund«, rief er. »Die ganze Gegend versetzt er mit seinem Köter in Angst und Schrecken. Ein Wunder, dass bis jetzt noch nichts Ernsthaftes passiert ist, sieht man von dem heutigen Zwischenfall und einigen Wildereien, die ich diesem Hund durchaus zutraue, ab. Aber damit ist jetzt endgültig Schluss. Ich werde dafür sorgen, dass dieser Höllenhund keinen mehr anfällt.«
»Ganz Ihrer Meinung, Durchlaucht«, pflichtete Alexander seinem Vater bei. »Die Haltung solch gefährlicher Hunde gehört verboten oder zumindest durch strenge Auflagen eingeschränkt.«
»Dann sind wir wenigstens einmal einer Meinung«, knurrte der Fürst. »Sonst ist alles in Ordnung mit euch beiden?«
Alexander und Jenny bestätigten, dass dem so war.
»Dann steigt ein!«, forderte der Fürst sie auf. »Ich bringe euch ins Schloss zurück. Nichts als Ärger und Aufregung hat man mit euch.«
»Dafür konnten wir aber wirklich nichts«, verteidigte sich Jenny. »Und ich kann mir auch eine andere Bleibe suchen, wenn dir mein Besuch nicht passt. Was ja der Fall zu sein scheint, denn dein ganzes Benehmen deutet darauf hin.«
»Hätte ich mein Schloss beflaggen und die hiesige Feuerwehr einen Willkommensgruß blasen lassen sollen, als du gestern ankamst?«, versetzte der Fürst missmutig.
»Das nicht«, entgegnete Jenny. »Es würde schon genügen, wenn du dich mir gegenüber etwas freundlicher verhalten würdest.«
»Ich bin nun mal, wie ich bin«, brummte Fürst Boris. »Ob dir das nun passt oder nicht. Entweder du gewöhnst dich daran, oder ...«
»Oder?«, hakte Jenny nach.
»Nichts«, erwiderte der Fürst. »Du bleibst natürlich bei mir wohnen. Ich habe es deiner Mutter versprochen. Und was ich verspreche, pflege ich zu halten. Wir werden uns schon irgendwie zusammenraufen.«
»Aber nicht auf meine Kosten«, stellte Jenny klar. »Denn dann verschwinde ich lieber von hier.«
Was wohl am besten wäre, dachte Fürst Boris, aber laut sprach er das nicht aus. Was eigentlich nicht seine Art war; denn normalerweise trat Seine Durchlaucht grundsätzlich mit beiden Füßen in jedes Fettnäpfchen, das sich ihm bot. Warum diesmal nicht? Ob er vielleicht gar nicht mehr wollte, dass Jenny ging? Sehnte er sich auf seine alten Tage nach so etwas wie ein bisschen Familienleben? Wer außer ihm selbst konnte diese Fragen beantworten? Er schwieg.
Am nächsten Tag erhielt Alexander erneut den Auftrag, Jennys Begleiter zu spielen. Diesmal ging es darum, den Weg nach Heidelberg und die Stadt selbst zu erkunden. Außerdem beabsichtigte Jenny, sich einen gebrauchten Kleinwagen zuzulegen, um nicht auf Bus oder Bahn angewiesen zu sein, wenn sie ab kommender Woche zur Uni fahren musste.
»Mir ist klar, dass ich Sie damit von Ihrer eigentlichen Arbeit abhalte«, meinte Fürst Boris, nachdem er Alexander mit seinem neuen Sonderwunsch vertraut gemacht hatte. »Aber wen außer Ihnen könnte ich Jenny sonst zur Seite stellen? Außerdem ist momentan ja auch nicht mehr ganz so viel zu tun.«
»Auf einem Gut wie Ihrem gibt es für den Verwalter immer etwas zu tun«, belehrte Alexander den Fürsten, obwohl es diesem sicher bekannt war. »Aber ich kann mir meine Arbeit einteilen und übernehme es gern, Jenny nach Heidelberg zu begleiten.«
Also setzten sich die beiden jungen Leute nach dem Mittagessen in Alexanders Schorschi und gondelten los. Es war das erste Mal seit dem Zwischenfall mit dem Kampfhund, dass sie allein miteinander sprechen konnten. Flüchtig gesehen hatten sie sich ein paarmal, aber das war dann auch schon alles gewesen.
»Und?«, begann Alexander, kaum dass sie losgefahren waren, das Gespräch. »Hast du die Antwort inzwischen gefunden?«
»Die Antwort auf welche Frage?«, gab sie zurück, obwohl sie genau wusste, was er meinte.
»Du wolltest deine Gefühle zu Ted erforschen«, half ihr Alexander auf die Sprünge. »Liebst du immer noch ihn, oder gehört dein Herz mittlerweile einem anderen?«
»Wem