„Bleib stehen, du Missgeburt! Gib mir den Ring, dann wird dir nichts geschehen.“ Dass er log, war offensichtlich. Olli hatte nur aus einem Grund überlebt, nämlich weil er die wichtigste Regel dieses Ortes befolgte: Töten oder getötet werden.
Ich passierte eine Kreuzung und sprang mit einem weiten Satz über den Stolperdraht hinweg.
Und wenn er die Falle kennt?, schoss es mir durch den Kopf. Warum hatte ich nicht eher daran gedacht? Vielleicht war Olli ja derjenige, der sie scharf gestellt hatte.
PENG!
Ein ekelhaft matschiges Geräusch ertönte, als die Klinge Olli in zwei Hälften schnitt. Ich blieb stehen und wandte mich schweratmend um. Da lag er, den Leib knapp unterhalb der Brust durchtrennt. Bunte Schlangen wanden sich aus seiner unteren Hälfte, während er mich aus großen irislosen Augen anstarrte.
„Du … du …“
Ich trat vor ihn und fing an, die Taschen von Hose und Mantel zu durchstöbern. Ich fand einige nützliche Dinge, aber das mit Abstand Wertvollste war eine fast volle Streichholzschachtel und ein kleines Aluminiumkästchen mit Zigaretten.
„Du …“ Ich sah die Wut in Ollis sterbendem Blick, als ich seinen Besitz an mich nahm.
Ein letztes Mal, bevor das Ich meiner Kindheit einer neuen, gnadenlosen Persönlichkeit wich, verließ ich meinen Körper und beobachtete mich selbst. Ich öffnete die Aluminiumschachtel und nahm eine der Zigaretten heraus. Ich zündete sie mit einem Streichholz an und zog daran. Der Rauch biss mir in die Lungen, und ich hustete. Der zweite Zug ging schon besser. Ich ging in die Hocke und blies Olli den Rauch in die weit geöffneten, leeren Augen.
Ich werde euch die Einzelheiten der weiteren Gräueltaten ersparen. Es sei nur so viel gesagt, dass es viele waren. Der Unterrumpf lehrte mich, einem Menschenleben nicht mehr Wert beizumessen als dem einer Ratte. Jeder Mord, den ich beging, machte mich stärker, machte mich reicher und … ließ eine immer größere Leere in meinem Innern zurück. Ich vergaß, was es bedeutete, ein Gewissen zu haben. Furcht wurde zu einem Wort, das ich nicht mehr verstand. Bald verließ ich die Konstruktionsschächte und erkundete weitere Teile des Rumpfes. Natürlich versuchte ich, weiter nach oben zu gelangen in der Hoffnung, Sonnenlicht auf meiner blassen Haut zu spüren. Doch je näher man dem Deck kam, desto schwerer wurde ein Durchkommen. Man traf auf viele verschlossene Türen und bewachte Durchgänge. Zudem nahmen die Süchtigen, die auf den höheren Ebenen lebten, weniger Perl zu sich. Mit anderen Worten: Sie waren meist nicht zugedröhnt, litten unter Entzugserscheinungen und waren daher ernstzunehmende Gegner.
Hingegen: Je weiter man nach unten in den Rumpf vordrang, desto zwielichtiger wurden die Bewohner. Auf den unteren Ebenen drückte einem die Stille des Ozeans auf die Trommelfelle. Stetes Tropfen hallte durch die Gänge, dann und wann unterbrochen vom stählernen Stöhnen des Schiffes. An vielen Stellen sammelte sich Wasser. Bewuchs, der mancherorts lumineszierend leuchtete, bedeckte Boden, Decke und Wände. Bei einem meiner seltenen Erkundungsgänge in diesem Teil des Rumpfes traf ich auf den wohl am schlimmsten zugerichteten Perlsüchtigen, der mir je begegnet ist. Das Merkwürdige am Perl ist, dass es die Menschen zwar langsam zu töten scheint, aber wohl nie zum Ende kommt. Der Mann war nackt. Haut, Haar und Augen weiß wie Schnee… nur seine Pupillen waren schwarz. Seine Haut spannte sich straff über sein Skelett und so erinnerte er mehr an eine wandelnde Leiche denn an einen lebenden Menschen. Er stand bloß da in einer Grotte und starrte an die Wand. Ich musterte ihn eine Zeit lang. Dann schnitt ich ihm die Kehle durch. Vielleicht habt ihr geglaubt, dass für jemanden wie ihn die Regel Töten oder getötet werden nicht gilt. Aber gerade Perlsüchtige werden, sobald die ersten Entzugserscheinungen eintreten, sehr vital, einfallsreich und unberechenbar. Ich weiß, wovon ich rede …
Der Mann bemerkte nicht mal, dass er starb. Eine Zeit lang stand er da, während das Blut aus dem grotesk lächelnden Schnitt in der Kehle floss. Dann brach er zusammen.
Durch Zufall gelangte ich eines Tages vor die Dealertür. Über diese Tür war es dem Gesinde aus dem Unterrumpf möglich, Handel mit den Piraten an Deck zu treiben.
Ich ahnte, dass die Tür verschlossen war. Meine Vermutung bestätigte sich. Als ich die Klinke nach unten drückte, öffnete jemand eine in der Tür verborgene Klappe. Ein hektisches Augenpaar, bestückt mit buschigen Brauen, kam zum Vorschein.
„Bist du das, Flip?“ Der Blick des Unbekannten fiel auf mich, und die Augen verengten sich zu Schlitzen.
„Mein Name ist Godric.“ Meine Stimme klang eingerostet. Ich hatte sie lange nicht benutzt.
„Hast du Perl?“
„Nein …“
„Dann verzieh dich.“
„Warte!“ Der Unbekannte hob die buschigen Brauen, und sein Blick verharrte. „Was bekomm ich, wenn ich dir Perl bringe?“
Der Unbekannte lachte. „Geld. Zigaretten. Und zwar deutlich mehr, als du unten in den Grotten dafür bezahlst. Aber ich bezweifle, dass ein Wurm wie du es schafft, etwas davon hier rauf zu schaffen. Die Süchtigen riechen, wenn du Perl mit dir herumträgst. Den Pelz eingeschlossen. Und du wirst nicht darum herumkommen, den Hauptgang auf der dritten Ebene zu betreten. Also viel Glück.“ Er schlug die Klappe zu. Selbst durch die verschlossene Tür hörte ich ihn spöttisch lachen.
Später klopfte ich erneut an die Tür und präsentierte ihm einige weiße Perlen auf der offenen Handfläche. Ich hatte mein gesamtes erbeutetes Geld und Zigaretten in den Grotten dagegen eingetauscht. Da ich noch immer durch die Konstruktionsschächte passte, war es ein Leichtes gewesen, die Droge hinaufzuschaffen.
Als der Unbekannte mich sah, hob er erneut die Brauen. Dieses Mal vor Überraschung. „Ich bin beeindruckt.“ Unten in der Dealertür öffnete sich eine weitere Klappe, und eine rostige Eisenschachtel wurde durchgeschoben. „Leg das Perl hinein, dann bekommst du deine Bezahlung.“
„Nein.“ Die Augenbrauen wanderten noch höher. „Erst die Bezahlung.“ Einen Moment lang glaubte ich, dass der Unbekannte die Klappe zuschlagen würde. Dann senkten sich die Brauen, und die Augen lächelten. „Na gut, du Schlaumeier.“
„Mein Name ist Godric.“
„Wie auch immer.“ Die Schachtel wurde zurückgezogen und kehrte wenige Augenblicke später gefüllt mit Tabak, Papier und einigen Groschen zurück. „Das sollte genügen.“ Und das tat es auch. Der Dealer hatte mir fast das Doppelte von dem gegeben, was ich für das Perl bezahlt hatte. Vom Erfolg beflügelt kehrte ich erneut in die Grotten zurück, tauschte Geld und Zigaretten gegen Perl und brachte es zur Dealertür. Das tat ich drei Mal.
„Du hast Talent“, meinte der Dealer. Er musterte mich einen Moment lang schweigend. „Ich wette, du sehnst dich nach dem Tageslicht, Kleiner.“
Ich nickte stumm.
„Diese Tür führt ans Deck der Swimming Island. Wenn es dir gelingt, mir schwarzes Perl zu bringen, lass ich dich durch. Wie hört sich das an? Mit deinem letzten Handel solltest du es bezahlen können.“ Allein der Gedanke ans Sonnenlicht ließ mein Herz schneller schlagen. Wie fühlte es sich an, wenn es einem die Haut wärmte? Wie fühlte es sich an, wenn einem der Wind durch die Haare strich? Ich erinnerte mich nicht.
Ich machte mich wieder auf den Weg zu den Grotten.
So erfuhr ich auf sehr schmerzlichem Wege, dass schwarzes Perl, wenn man es nicht richtig unter Verschluss hielt, so ziemlich von jedem Perlsüchtigen im ganzen Unterrumpf erspürt