Es dauerte eine Weile, bis Smithfield die richtigen Stellen in den Aufzeichnungen herausgesucht hatte. Es war auf dem Bildschirm deutlich zu sehen, wie Lee Trenton am Vortag gegen Mittag mit seinem Wagen in die Tiefgarage gefahren war. Erst nach Mitternacht hatte er sie wieder verlassen.
„Wahrscheinlich war da diese Privatvorführung für irgendwelche erlesenen Kunden zu Ende“, meinte Milo.
Anschließend zeigte uns Smithfield die Szenen, in denen man sehen konnte, wie Bykovs Chevy am Morgen um 4.30 Uhr die Tiefgarage verließ.
„Können Sie die den Fahrer näher heranzoomen?“, fragte ich.
„Sicher“, nickte Smithfield.
Er vergrößerte den Bildausschnitt, der den Mann hinter dem Steuer des Chevys zeigte. Aber mehr als ein gepixelter Schatten war dort nicht zu sehen.
„Wer sollte das denn sonst sein – außer Bykov?“, fragte Hastings.
Ich zuckte mit den Schultern. „Wir sind uns nicht sicher, ob Bykov zu diesem Zeitpunkt überhaupt noch am Leben war. Den Wagen könnte auch sein Mörder benutzt haben.“
Wir ließen uns noch den Blick auf Bykovs Parklatz zeigen.
Allerdings versperrten ein Pfeiler sowie ein paar andere Fahrzeuge den Blick. So war auch nicht zu sehen, wer den Wagen bestiegen hatte und ob der Betreffende vielleicht noch eine Leiche im Kofferraum verstaute.
„Noch eine letzte Frage“, wandte ich mich an Hastings. „Vor zwei Monaten soll eine gewisse Nora bei Bykov eingezogen sein. Hatte sie zufälligerweise auch eine Chip Card für die Tiefgarage?“
Hastings schüttelte den Kopf. „Nein. Sie ist bei uns nicht bekannt. Bykov war Eigentümer seiner Wohnung. Der konnte dort wohnen lassen, wen er wollte.“
„Offenbar hatte die Lady keine eigenen Wagen“, kommentierte Milo.
9
„Wenn du mich fragst, dann passt das alles überhaupt nicht zusammen“, meinte Milo, während wir mit dem Lift zurück in die Galerie im Erdgeschoss fuhren. „Bykov fährt mit seinem eigenen Wagen am frühen Morgen aus der Tiefgarage, obwohl er in seiner Wohnung ermordet wurde?“
„Wir wissen nicht, wer am Steuer des Chevys saß“, erinnerte ich Milo.
„Gut, gehen wir davon aus, dass es der Mörder war, der am Steuer saß. Er veranlasst Bykov, ihm die Tür aufzumachen...“
„Das heißt er muss Bykov bekannt gewesen sein, Milo!“
„Nicht unbedingt. Eine Automatik mit Schalldämpfer könnte auch ein überzeugendes Argument gewesen sein! Und sag jetzt nicht, dass er um seines Gastes willen die Alarmanlage ausgeschaltet hat! Die hat er einfach nur vergessen, weil am Vorabend doch eine dieser mysteriösen Präsentationen gewesen ist, deren Gäste so Lichtscheu sind, dass sie nicht von einer Überwachungskamera aufgezeichnet werden wollen.“
„Wie auch immer. Es kommt zum Streit, vielleicht auch zum Kampf“, sagte ich. „Der Schuss in der Galerie ist eine Tatsache. Bykov bekommt eine Kugel ab und der Killer durchsucht das ganze Haus nach belastendem Material! Aber ein unbekannter Profi hätte Bykov schon an der Tür erschossen. Also muss es doch ein Bekannter gewesen sein.“
„Okay, ich gebe zu, dass sie offenbar noch eine ganze Weile miteinander geredet haben, Jesse. Vielleicht wollte der Killer zuerst noch Informationen aus Bykov herausholen.“
Ich atmete tief durch „Vielleicht sollten wir das ganze mal umgekehrt durchdenken, Milo.“
„Wie meinst du das?“
„Na, wir gehen doch bis jetzt immer davon aus, dass Bykov das Opfer war. Wie funktioniert das denn, wenn er der Täter ist?“
„Komm schon, das ist nicht dein Ernst, Jesse!“
„Ich bin jedenfalls sehr gespannt auf die Blutanalyse.“
Als wir in der Galerie ankamen, war Milton Dennister bereits von Bradshaw’s Coffee Shop zurückgekehrt.
Bykov hatte dort tatsächlich jeden Morgen sein Frühstück eingenommen, wie er uns berichtete. In der Zeit vor seiner letzten Reise nach Russland war dabei oft eine junge Frau zugegen gewesen. „Bykov wurde gestern zum letzten Mal in Bradshaw’s Coffee Shop gesehen“, berichtete Dennister. „Und zwar zusammen mit einem Mann, der ein ziemlich auffälliges Äußeres hatte: kaum 1,60 groß, fast kein Hals, breites Gesicht und grauer Cäsar-Schnitt. Er trug eine blauen Blazer und sprach mit sehr hartem, ausländischem Akzent.“
„Ein Russe?“, fragte Milo.
„Möglich. Die Leute in dem Coffee Shop waren sich leider nicht sicher. Tatsache ist, dass das Arbeitsfrühstück der beiden mit einem lautstarken Krach endete! Bykov blieb allein zurück.“
„Wir müssen unbedingt mit ihm sprechen!“, stellte ich klar.
Dennister nickte. „Deswegen habe ich auch bereits auch in Ihrem Field Office angerufen. Sie verfügen da über einen exzellenten Zeichner...“
„Agent Prewitt!“, schloss ich.
„Genau. Er begibt sich mit seinem Laptop zu Bradshaw’s und fertigt aus den Angaben der Angestellten ein Phantombild. Vielleicht finden wir ihn dann.“ Dennister blickte auf die Uhr. „Sie beide waren ja eine Weile weg und da habe ich die Zeit genutzt, um den Kerl zu überprüfen, den Bykov in der Galerie angestellt hatte.“
Ich hob die Augenbrauen.
„Lee Trenton?“
Er nickte. „Genau. Über den Kerl gibt es eine Datei, die man über NYSIS einsehen kann. Mehrere Verurteilungen wegen Hehlerei stehen auf seinem Kerbholz.“
„Das ist interessant.“
„Noch interessanter ist, worum es dabei ging, Jesse. Sie werden es nicht glauben: Er hatte sich auf illegale Kunstgegenstände spezialisiert. Allerdings war er damals noch auf Kunst aus Südostasien versessen.“
„Vielleicht liefen Bykovs Verbindungen zur Kunstmafia über diesen Trenton“, vermutete ich.
Dennisters Gedanken schienen sich in dieselbe Richtung zu bewegen. „Das liegt meiner Ansicht nach nahe.“
10
Wir befragten noch systematisch die anderen Bewohner des Hauses. Die meisten waren um diese Zeit zur Arbeit und so würden wir wahrscheinlich noch einmal zurückkommen müssen.
Ein Siebzigjähriger, der seine Wohnung im fünften Stock hatte, beschwerte