Roderick räusperte sich. »Gerne. Auch, wenn ich einschränkend sagen muss, dass die Information noch unvollständig ist. Es ging um Ihre Suchanfrage nach einer Lebensform, die über eine überproportionale Intelligenz verfügt und darüber hinaus in der Lage ist, sich zu tarnen. Und in der Tat: So eine Lebensform gibt es.«
Ein seltsames Objekt erschien über dem Display.
Jem trat näher. Was war denn das?
»Was Sie hier sehen, Herrschaften, ist eine Lebensform, die auf der Erde seit mehr als dreihundertvierzig Millionen Jahren heimisch ist. Sie hat ihre Form seither nur unwesentlich verändert und gilt als Meister der Anpassung. Außerdem ist sie hochintelligent. Die Rede ist von den Tintenfischen. Den Sepia, den Kraken und Oktopoden. Der wissenschaftlich korrekte Ausdruck lautet Kopffüßer oder Cephalopoden.«
Jem spürte ein Kribbeln im Nacken. »Das Vieh im Radkasten«, stieß er aus. »Die schlaffen, wurmartigen Tentakeln, das halb durchsichtige Fleisch, die merkwürdigen Saugnäpfe. Jetzt weiß ich, woran mich das die ganze Zeit erinnert hat.«
Roderick nickte. »In den letzten paar Jahrhunderten ist es diesen Tiere gelungen, ihre maritime Heimat verlassen und das Land zu bevölkern. Eine Veränderung in ihrer DNA ermöglicht ihnen, Luftsauerstoff zu atmen und sich über Land fortzubewegen. Sie haben nicht nur die Spitze der Nahrungskette eingenommen, sondern sogar den Menschen als Krone der Schöpfung verdrängt. Diese Informationen gelangten niemals an die Öffentlichkeit. Sie wurden als streng geheim eingestuft und mit der höchsten Sicherheitsstufe versehen.«
»Moment mal«, warf Jem ein. »Wir reden hier aber immer noch von Tieren, oder?«
»Die Grenze zwischen Mensch und Tier ist sehr willkürlich gewählt«, sagte Olivia. »Im Grunde haben die Menschen sie frei erfunden, weil sie sich für etwas Besseres halten.«
»Das ist doch Blödsinn …«
»Kein Blödsinn. Überleg doch mal. Wenn ich in Bio richtig aufgepasst habe, unterscheiden wir uns vom Schimpansen nur in zwei Prozent unseres Erbgutes – achtundneunzig Prozent sind absolut identisch. Und trotzdem ziehen wir eine unsichtbare Grenze und sagen, er sei ein Tier und wir wären Menschen.«
»Und diese Kreaturen scheinen deutlich anpassungsfähiger und intelligenter zu sein als Schimpansen«, fügte Paul hinzu. »Um Vögel, Wölfe und Berglöwen zu manipulieren, bedarf es einer ungeheuren Willenskraft. Die gedankliche Kapazität müsste so groß sein, dass sie schon in den Bereich der Telepathie geht. Ein solches Lebewesen wäre uns Menschen weit überlegen.«
»Es handelt sich um eine Theorie, die bereits seit vielen Jahren von führenden Evolutionsbiologen vertreten wird«, erklärte Arthur. »Allerdings haben wohl nicht mal die kühnsten unter ihnen damit gerechnet, dass es so schnell passieren würde.« Er zuckte die Schultern. »Tja, Leute, tut mir leid, euch das sagen zu müssen, aber die Krone der Schöpfung hat seit Kurzem nicht mehr zwei Arme, sondern acht.«
Jem war fassungslos. »Und wir haben es überfahren«, murmelte er.
»Es muss irgendwo zwischen den Sträuchern gewesen sein«, sagte Zoe. »Bennett hat es nicht rechtzeitig erkannt und ist einfach drübergefahren. Wir haben es getötet. Keine besonders feine Art, sich einander vorzustellen.«
»Aber das war doch keine Absicht«, warf Lucie ein. »Es war ein Unfall.«
»Und die Sache mit dem Pfeil? Wie willst du ihnen das erklären?« Zoe zog eine Braue in die Höhe. »Alles, was diese Viecher von uns wissen, ist, dass wir rücksichtslos und grausam sind und dass wir sie nach Belieben töten. Wahrscheinlich halten sie uns für skrupellose Killer. Und für Killer gilt die Todesstrafe.«
»Oh Mann …«, murmelte Jem.
»Also, jetzt mal langsam«, sagte Katta. »Mir geht das echt ein bisschen zu schnell. Tintenfische? Die leben doch im Meer.«
»Schon lange nicht mehr«, erwiderte Roderick.
»Ich darf Sie auf einen Artikel vom 23. Januar 2081 hinweisen. Er stammt aus der Fachzeitschrift Scientific American und wurde knapp fünfzig Jahre nach dem Einschlag des Kometen Thor verfasst. Zu diesem Zeitpunkt wusste man bereits recht gut über die Veränderungen auf der Erde Bescheid. Aber man hielt die Erkenntnisse geheim. Entgegen den Prognosen führender Wissenschaftler hatte der Kometeneinschlag nämlich doch beträchtliche Auswirkungen. Gewaltige Mengen von Kohlendioxid waren in die Atmosphäre gelangt, die zu einer Erwärmung der Durchschnittstemperatur auf der Erde führten. Die Polkappen schmolzen, der Golfstrom versiegte und der Meeresspiegel stieg um mehrere Meter. Das Weltklima änderte sich rapide. Trockene Gebiete verwandelten sich in Wüsten, gemäßigte Breiten in Regenwälder. Riesige Teile der Küstenregionen wurden zu Flachwasserzonen.«
Roderick malte ein paar Kontinentalumrisse in die Luft. Europa sah auf einmal ganz anders aus. Auch Nordamerika war für Jem kaum noch wiederzuerkennen. »In den neu entstandenen Flachwasserzonen konnte sich eine neue Form von Leben entwickeln«, fuhr er fort. »Kopffüßer, die bisher an das Leben im Meer gebunden waren, drangen dort ein und eroberten das Land. Erst über die Sumpfgebiete, später über die schwülwarmen Regenwälder. Es war ein großer Schritt in der Evolution.«
»Evolution«, murmelte Arthur. »Mutation. Die Natur hat sich verändert. Erinnert ihr euch an die Wölfe? Das waren doch keine normalen Wölfe. Eher eine Mischung aus Hund und Raubkatze, oder?«
»Genau wie die Riesenratten im Tunnel«, flüsterte Lucie. »Oder die Pflanzen und Vögel am Flughafen.«
Jem wischte seine schweißnassen Hände an der Hose ab. Endlich hatte er eine Bestätigung für das, was er die ganze Zeit gespürt hatte. Er sog die Luft ein. »In was für eine Riesenscheiße sind wir hier bloß hineingeraten?«
Moment mal«, sagte Olivia. »Ich bin echt keine Expertin auf dem Gebiet der Evolutionsforschung, aber eine Sache weiß ich doch. Und zwar, dass solche Vorgänge nur sehr langsam vonstattengehen. Sie benötigen enorm viel Zeit. Wir reden hier über Zeiträume von Hunderttausenden, wenn nicht gar Millionen von Jahren. Und jetzt soll das alles von heute auf morgen geschehen sein?«
Lucie fand, dass das eine gute Zwischenbemerkung war. Olivia schien ein ziemliches Ass in Bio zu sein. Roderick lächelte ebenfalls. »Sehr gut, junge Dame. Sie sprechen damit die zweite große Veränderung an. Erinnern Sie sich an den Fernsehbeitrag, den ich Ihnen kürzlich gezeigt habe?«
Olivia verschränkte die Arme vor der Brust. »Du meinst die Biologin, die von den einfachen organischen Verbindungen sprach, die der Komet ins Meer getragen hat?«
»Protomaterie, so hatte sie sie genannt«, warf Paul ein.
»Aber sie sagte doch, dass von denen keine Gefahr ausgehen würde.«
»Tja, falsch gedacht«, erwiderte Roderick. »Diese Moleküle waren zwar nicht direkt gefährlich, hatten aber doch einen gewaltigen Effekt auf das bestehende Leben. Der Begriff fiel eben schon mal. Mutation. Wissen alle, worum es sich dabei handelt?«
»Nicht direkt«, sagte Katta. »Vielleicht könntest du noch mal kurz zusammenfassen, worum es dabei geht.«
»Also gut. Die Zellteilung ist Ihnen allen noch ein Begriff, oder?«
»Klar.«
»Nun, dabei kommt es immer wieder zu kleinen Fehlern – bestimmte Abschnitte auf dem Genstrang, die sich nicht hundertprozentig genau verdoppeln. Dadurch entstehen Veränderungen, Mutationen genannt. In den meisten Fällen sind sie harmlos und bewirken gar nichts. Manchmal führen sie dazu, dass das Lebewesen sich nicht mehr vermehren kann. Ganz selten geschieht es, dass die Veränderungen einen Vorteil bewirken. Zum Beispiel könnte der Hals eines Tieres ein bisschen länger werden, wodurch es besser an die oberen Blätter kommt, oder es