Sie konnte wieder gehen. Als sie draußen auf dem Gang stand, überlegte sie, ob sie nicht doch diesem Kriegsgefangenen eine „Sonderbehandlung“ zuteil werden ließ. Aber wenn es so war, warum tat sie das?
Die Antwort lag so nahe, aber sie kam nicht darauf. Sie hätte es sich auch gar nicht vorstellen können.
Auch als sie am nächsten Tag während ihrer dienstfreien Stunden vor dem OP-Saal stand, kannte sie die Antwort noch nicht. Sie dachte auch nicht daran, sich eine Antwort zu geben. Ihre Gedanken befassten sich mit der Operation an Frederic Doyle, Captain der US Air Force. Er lag jetzt da drinnen, und Professor Dr. Rochlitz musste einen Kampf mit dem Tod bestehen.
Leise trat sie ein. Niemand beachtete sie. Erst nach einer Weile blickte der lange Unterarzt von Eberingen über die Köpfe der Chirurgen und Schwestern hinweg auf Renate.
Ihre Blicke trafen sich. Sie sah, wie es in von Eberingens Augen aufblitzte. Seinen Mund konnte sie nicht erkennen. Der war vom Mundschutz verdeckt. Aber sie hatte das Gefühl, er würde lachen.
Aus der Entfernung beobachtete sie die Operation. Ihre Hände hielt sie auf dem Rücken. Die Finger krampften sich ineinander. Gespannt verfolgte sie jeden Befehl, jeden Handgriff, soweit sie den erkennen konnte. Und selbst ein Laie hätte begriffen, dass es eine Operation auf Leben und Tod war.
Plötzlich fuhr sie zusammen. Sirenengeheul. Noch nie hatte sie dieses nerzermürbende Geheul so gepeinigt wie gerade jetzt.
Werden sie weitermachen? Oder müssen sie die Operation abbrechen?
Sie sah, wie der Professor den Kopf hob, sah, wie Dr. Klein nickte und auch Dr. von Eberingen den Kopf senkte.
Sie fürchtete schon, es werde abgebrochen, aber dann ging es weiter.
Am Kopfende des OP-Tisches stand das Atmungsgerät. Der Beutel blähte sich auf, fiel zusammen, in rhythmischen Abständen. Immerzu beobachtete sie diesen Beutel. Solange er sich aufblähte, würde Doyle leben.
Ich will, dass er lebt! Ich will, dass er wieder gesund wird!, schrie es in ihr. Die Knöchel ihrer Finger wurden weiß, aber sie achtete nicht darauf. Ganz fest presste sie die Finger ineinander, als könne sie so mithelfen, den Kampf gegen den Tod zu gewinnen.
Flugzeuge brummten am Himmel. Aber es geschah nichts. Die Entwarnung kam. Und noch immer operierten die Ärzte.
Endlich war es so weit. Der Professor drehte sich um, entdeckte Renate und nickte ihr zu.
Der väterliche Blick seiner gütigen Augen besänftigte ihre Nervosität. Sie fühlte sich erleichtert.
Eine Schwester zog dem Chirurgen die Gummihandschuhe herunter. Er nahm sich den Mundschutz ab und löste die Gummischürze. Lächelnd trat er vor Renate hin und gab ihr die Hand. „Ich glaube, wir haben gewonnen. Er wird ein paar Tage in die Sonderstation kommen. Sie werden ihn pflegen, Füllen.“
„Herr Professor, die Oberschwester ...“, wandte Renate ein.
Er legte seine Hand auf ihrem Arm. „Kind, kümmern Sie sich nicht um die Oberschwester. Sie pflegen ihn. Und damit basta! Ich hoffe, er wird in acht Wochen aus dem Gröbsten sein. Das schaffen wir nur, wenn wir ihm etwas Hilfestellung geben. Ich glaube, das könnten Sie wie kein anderer.“ Er beugte sich vor und flüsterte: „Dieser verfluchte Krieg kann nicht mehr lange dauern. Die Amerikaner sind bei Remagen über den Rhein gekommen. Und dann hat Ihnen keine Oberschwester etwas zu befehlen. Halten Sie noch solange durch! In zwei Wochen ist für uns der Krieg aus.“
Sie spürte plötzlich Misstrauen. „Haben Sie sich deshalb so um ihn bemüht?“, fragte sie skeptisch.
Er schüttelte lächelnd den Kopf. „Nein, Füllen. Vielleicht Klein oder von Eberingen, aber ich nicht. Übrigens könnte ich Ihnen die gleiche Frage stellen. Na?“ Er lachte leise. „Sie sind ebenso empört wie ich, nicht wahr? Kommen Sie, Füllen, wir wollen zusammen eine gute Tasse Kaffee trinken. In einer Viertelstunde habe ich den nächsten Patienten, und an dem nehme ich das gleiche Interesse wie an Ihrem Doyle.“ Er betonte „Ihrem“ und lächelte, als sie errötete.
„Es ist nicht mein Doyle!“, protestierte sie.
Er legte väterlich den Arm um sie und führte sie zur Tür. „Nicht doch, Füllen, nicht doch. Ich kannte einen jungen Assistenzarzt, der liebte eine Frau, die dem Tode näher war als dem Leben, ich habe ihn damals einen Wahnsinnigen genannt. Die Frau war verloren, medizinisch gesehen. Aber sie kam durch. Ein Wunder? Ja, ein Wunder der Liebe. Sie lieben ihn, Füllen. Wer weiß, ob er für Sie so empfindet. Aber wenn Sie ihn damit, mit Ihrer Liebe nämlich, über die Runden bringen, dann war diese Liebe nicht umsonst, auch wenn sie keinen prosaischen Abschluss findet, wie es eine Ehe ist oder so ähnlich. Warten Sie in meinem Zimmer, ich komme gleich! Setzen Sie schon mal Wasser auf. Den Kaffee mache ich selbst. Geheimrezept“, fügte er mit spitzbübischem Schmunzeln hinzu.
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