100 Prozent Anders. Tanja Mai. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Tanja Mai
Издательство: Readbox publishing GmbH
Серия:
Жанр произведения: Биографии и Мемуары
Год издания: 0
isbn: 9783708105185
Скачать книгу
Wurzeln habe. Ich ließ das mal zurückverfolgen bis ins 17. Jahrhundert. Allerdings konnte bei uns keine familiäre Linie nachgewiesen werden, die aus Südeuropa stammt. Aber wer weiß das schon. Mein Vater hatte sechs Geschwister, die sich in sämtliche Himmelsrichtungen verteilten. Auch meine Mutter besaß drei ältere Geschwister, wobei ihr ältester Bruder im Zweiten Weltkrieg gefallen ist. Ihre Lieblings-Schwester lebt in Frankreich. Koblenz war ja nach dem Krieg französische Besatzungszone. Meine Tante Marianne verliebte sich 1943 in einen französischen Soldaten und ging 1947 mit ihm nach Paris. Aus Marianne wurde ein weiches Marian, wie die Franzosen sagen. Nur meine Mutter sagt weiterhin Marianne zu ihr. „So einen Quatsch mache ich nicht mit“, meint sie. Meine Tante redet eigentlich hochdeutsch mit französischem Akzent. Doch wehe, sie ärgert sich über etwas, dann kommt ihr rheinischer Singsang-Dialekt voll durch. Das ist zum Totlachen. Erst kürzlich war sie bei uns in Koblenz zu Besuch.

      Tante Marianne ist mittlerweile 85, sieht aber noch extrem schick und rüstig aus und legt größten Wert auf ein gepflegtes Aussehen. Sie ist im wahrsten Sinne des Wortes ein Unikum, eine wunderbare Mischung aus französischem Esprit und deutschen Tugenden. Sie trägt wenig Schmuck, aber jedes Teil ist etwas Besonderes. Zu jeder Hermès-Tasche kombiniert sie das passende Halstuch. Wie eine richtige Französin eben. Mir kommt ihr Kleidungsstil sehr entgegen. Wahrscheinlich habe ich vieles an ihr bereits als Kind unbewusst in mir aufgenommen.

      Die Ferien bei Tante Marianne und Onkel Robert waren jedes Mal etwas ganz Besonderes. Sie besaßen eine traumhafte Eigentumswohnung in Paris, Parterre, mit einem wunderschönen Garten. Dort habe ich zum ersten Mal etwas typisch Französisches gesehen – diese übertapezierten Türen, die wir in Deutschland gar nicht kennen. Auch vom französischen Toilettenpapier war ich schon als Kind unglaublich begeistert. Bei uns zuhause gab es Klopapierrollen, bevorzugt noch mit diesen scheußlichen bunten Blumen bedruckt. Bei meiner Tante stand auf der Toilette eine elegante Box, aus der man feine, gefaltete Blättchen zog. Diese Ästhetik im Bad hat mich als kleinen Jungen nachhaltig beeindruckt.

      Als meine Cousine Catherine 1969 heiratete, fuhren meine Eltern mit uns Kindern zur Hochzeit nach Paris. 500 Kilometer mit zwei kleinen Kindern im Auto. Es war die Hölle. Dafür war das Fest umso schöner. Es gibt Fotos von mir in einer kurzen weißen Hose mit dunkelblauem Jackett. Mein Bruder Achim hätte so etwas nie angezogen. Ich liebte es schon als Junge, mich schick zu machen.

      Meine Mutter und ihre Schwester telefonieren seit über fünfzig Jahren jeden Sonntag zur selben Uhrzeit miteinander. Sonntags ist es billiger, denken beide. Dutzende Male habe ich versucht, meiner Mutter diesen Spleen auszutreiben, aber sie lässt sich nicht davon abbringen. In der einen Woche ruft Tante Marianne an, das andere Mal meine Mutter. Mein Onkel starb 2008, seitdem lebt meine Tante allein in ihrem Haus an der französischen Atlantikküste.

      Regelmäßig biete ich meiner Mutter an, mit ihr und meinem Vater zu Tante Marianne in den Urlaub zu fliegen. Doch meine Eltern fliegen nicht gern. Und mit dem Auto von Koblenz bis in den Nordwesten Frankreichs zu fahren, ist ihnen verständlicherweise zu anstrengend. Also begnügt sich meine Mutter mit den wöchentlichen Telefonaten mit ihrer Lieblingsschwester.

      Ich bin bis heute ein absolutes Mama-Kind. Wir telefonieren mindestens jeden zweiten Tag miteinander. Sie ist letztes Jahr 75 Jahre alt geworden. Kurz nach ihrem Geburtstag im September rief sie mich an und erzählte mir stolz: „Ich war beim Arzt. Er meinte zu mir: ‚Also, Frau Weidung’, sie haben Blutwerte, die hat manch Fünfzigjährige nicht mehr.“ Im Verhältnis zu meinem impulsiven Vater ist sie die Ruhigere. Innerhalb der Familie ist sie allerdings die Chefin. Nach außen hin scheint mein Vater der Herr im Haus zu sein, doch eigentlich hatte schon immer meine Mutter das Sagen. Eben die klassische Rollenverteilung. Die beiden ergänzen sich wunderbar und feiern dieses Jahr ihren 55. Hochzeitstag. Beide sind in der Gegend um Münstermaifeld aufgewachsen und wohnten als Kinder nur sechs Kilometer voneinander entfernt. Es war logisch, dass sie sich irgendwann über den Weg laufen mussten.

      In den Fünfzigerjahren setzte man sich ja nicht mal schnell ins Auto und fuhr zum Feiern in die Diskothek. Auf dem Land gab es im Jahr genau eine Kirmes und ein Schützenfest als Kontaktbörse. Meine Eltern lernten sich 1954 beim Tanzen auf dem Schützenfest kennen. Im Mai 1956 war Hochzeit, im Mai 1957 kam Achim zur Welt. Es war also keine „Muss“-Heirat, sondern tatsächlich Liebe.

      Mein Vater Peter arbeitete als leitender Finanzbeamter in Koblenz und war außerdem nebenberuflich 28 Jahre lang Bürgermeister von Münstermaifeld-Mörz. In seiner Freizeit engagierte er sich als Erster Vorsitzender des örtlichen Schützenvereins und ist mittlerweile Ehrenbürger von Münstermaifeld. Also ein, wie man sagt, durch und durch solider Mann, vom Showbusiness so weit entfernt wie die Erde vom Mond. Sein schönstes Hobby war es, sich handwerklich zu betätigen. Ihm wäre es nie in den Sinn gekommen, uns Kindern irgendwelche Plastikspielsachen zu kaufen.

      Zu meinem fünften Geburtstag wünschte ich mir unbedingt einen Kaufladen. Da mein Vater nun mal ein Tüftler war, stand er nächtelang in seiner kleinen Werkstatt und baute mir den tollsten, größten und einzigartigsten Kaufladen, den ich je gesehen hatte. Jede Mini-Wurst, jede Tomate, jedes kleine Brötchen hatte er selbst aus Holz geschnitzt. Das Allerbeste daran war aber, dass man den Kaufladen zur Post umfunktionieren konnte. Ich bekam ein Set Postkarten, Briefmarken und kleine Notizblöcke geschenkt und war stolz wie Bolle! Seine handwerklichen Fähigkeiten endeten damit, dass er mit viel Eigeninitiative und Muskelkraft noch ein zweites Haus für die Familie baute. Zu meinem persönlichen Leidwesen, was ich später noch näher erläutern werde.

      Auch die Weihnachtsfeste verliefen bei uns stets nach demselben Ritual, bei dem Papa die Zügel in Händen hielt (das hat er sich zumindest jahrelang eingebildet). Es war jedes Jahr das Gleiche: Kaum hatten wir fünf das Haus verlassen, um zum Weihnachtsgottesdienst zu gehen, da stöhnte meine Mutter: „Du meine Güte, ich habe meine Handschuhe vergessen. Sie liegen in der Küche.“ Mein Vater tat so, als würde er sich über ihre Schusseligkeit aufregen: „Mein Gott, Helga, wo hast du nur deine Gedanken?“

      Papa stapfte also zurück ins Haus und gab vor, Mamas Handschuhe zu holen. In Wirklichkeit legte er aber in Windeseile die Päckchen unter den Weihnachtsbaum und machte alle Lichter im Haus an. Wenn wir von der Messe aus der Kirche nach Hause kamen, erstrahlte das Wohnzimmer in vollem Glanz. Als wir klein waren, waren wir Kinder natürlich felsenfest davon überzeugt, dass das Christkind unser Haus verzaubert hatte. Irgendwann wurden wir jedoch stutzig, da unser Vater jedes Mal ohne Mamas Handschuhe zurückkehrte. Die vergaß er natürlich bei all der Hektik. Als ich acht Jahre alt war und wir am Heiligen Abend wieder mal vorm Haus auf Papa warten mussten, sagte ich ganz trocken: „Papa, du hast wieder die Handschuhe vergessen.“ Ab diesem Zeitpunkt war meinen Eltern klar, dass wir Kinder Bescheid wussten.

      Letztes Jahr zu Weihnachten gab mein achtjähriger Sohn Alexander übrigens den gleichen Kommentar ab, als ich an Heiligabend die Handschuhe meiner Frau vergessen hatte …

      ***

      Meine Mutter führte in unserem Haus eine Gaststätte aus dem Nachlass meiner Großeltern und einen „Tante-Emma-Laden“. Die Gaststätte habe ich nicht mehr in Erinnerung, da sie recht bald nach meiner Geburt geschlossen wurde. Später erzählte meine Mutter mir, dass ich glücklicherweise ein unkompliziertes Baby gewesen sei. Es kam wohl oft vor, dass meine Mutter unten im Erdgeschoss unseres Hauses Gäste in der Kneipe sitzen hatte, denen sie Bier zapfte, während ich oben im ersten Stock in meinem Bettchen lag und schrie. Sie rannte hin und her, Treppe rauf, Treppe runter. Irgendwann hatte sie darauf keine Lust mehr. Stattdessen konzentrierte sich meine Mutter nur noch auf Omas „Tante-Emma-Laden“.

      Für uns Kinder war das natürlich ein Paradies. Süßigkeiten und Eiscreme waren im Hause Weidung immer vorhanden. Wir mussten jedoch um Erlaubnis fragen, wenn wir uns ein Milky Way oder Gummibärchen aus dem Regal nehmen wollten. Unser Geschäft war für uns kein Selbstbedienungsladen, diesbezüglich war meine Mutter sehr streng.

      Auf den gefühlten zwölf Quadratmetern gab es alles, was das Herz begehrte. Obst, Wurst und Käse, Waschmittel, Schreibblocks und Konserven bis hin zu Schokolade und Chips. Jeden Dienstag kam der für uns zuständige Handelsvertreter, um bei meiner Mutter die Bestellungen für die Wochenendlieferung aufzunehmen. Es war damals eine komplett andere Welt. Nicht wie heute, wo man über Scannerkassen