70 Tage Pandemie. Hendrike Piper. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Hendrike Piper
Издательство: Readbox publishing GmbH
Серия:
Жанр произведения: Контркультура
Год издания: 0
isbn: 9783347097148
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(also uns) dazu auffordern zur Verhinderung von Ansteckung (wir die anderen und sie uns, gebetsmühlenartig wird das erklärt, falls wir es immer noch nicht kapiert haben – danke, haben wir bereits!) zu Hause zu bleiben. Damit und wenn wir unsere Mitmenschen im Schneeballeffekt ebenfalls dazu motivieren, werden wir, so wird es suggeriert, Menschenleben retten. Mein Mann nennt das etwas böse die „Stay at home, die alone3“ – Propaganda. Wir verstehen den Gesinnungsschwenk unserer vor einer Woche noch so differenziert urteilenden Freunde nicht, verlassen uns darauf, dass alle, die zu Hause bleiben, unser Leben schützen (wir unsolidarische Schweine!) und gehen trotzdem wandern. Prompt begegnet uns auf dem Waldweg ein Polizeiauto, was wir echt krass finden – normalerweise muss man die hierzulande selbst in den Brennpunkten der Großstädte suchen! Auf ca. halber Strecke dann ein erfreuliches Beispiel unternehmerischer Findigkeit: Die zwangsgeschlossen gewähnte Ausflugsgaststätte verkauft „To go“ nach draußen; da netterweise ein paar Tische und Stühle stehen gelassen wurden, können wir in 5 Meter Entfernung zu anderen erfreuten Gästen doch noch Kaffee und Kuchen genießen. Wie gut diese noch vor wenigen Tagen selbstverständlich gewesene Köstlichkeit schmeckt!

      3 Stay at home, die alone = Englisch für: Bleib zu Hause und stirb einsam

       Tag 14

      Heute Morgen in der Praxis erzählt mir ein Patient: In der Straßenbahn fragte ihn die Polizei, wohin er wolle. Er gab die Praxis als Ziel an und dann zu Bedenken, dass er alleine doch unterwegs sein dürfe?! „Ach ja, stimmt“, habe der Polizist gesagt.

      Nach der Praxis treibe ich mich nochmal auf der Homepage des Robert-Koch-Instituts herum. Die vielen Zahlen werden mittlerweile durch bunte Balken visualisiert, parallel dazu gibt es (Achtung, schon wieder ein neues Wort!) Dashboards über das globale Geschehen, das sind solche geographische Karten wie im Atlas, statt wie dort Informationen über Bruttoinlandsprodukt oder das hauptsächlich angebaute Getreide (jaja, ich habe im Erdkundeunterricht damals aufgepasst) findet man hier Fall- und Todeszahlen als Info über die Länder.

      Nebenbei erfahre ich, dass Schweden entgegen der restriktiven Maßnahmen vieler europäischer Länder auf Freiwilligkeit setzt, Erkrankte bittet zu Hause zu bleiben (komisch, dass es erst eine Pandemie gebraucht hat, bis das mal jemand begreift!) und ansonsten man dort über Ostern weiter Skifahren kann – cool.

      Ach ja, und fast hätte ich`s vergessen: Baden-Württemberg nimmt jetzt doch ganze VIER elsässische Intensivpatienten auf! Ein Hoch auf die Deutsch-Französische Freundschaft!

       Tag 15

      Telefonat mit der Schwägerin: Ihre beiden Kinder im Grundschulalter haben mit einem dritten im Hof gespielt. Naaa, wer ahnt, wie es jetzt weitergeht??? Richtig: Herr Nachbar hatte nichts Besseres zu tun als die Polizei zu rufen. Zwei -wie man zu ihrer Verteidigung sagen muss: eher beschämte – Beamte klingelten kurz darauf an der Wohnungstür der Schwester meines Mannes und machten sie auf ihr „Vergehen“ aufmerksam. Später lese ich in der Zeitung, dass unser Innenminister aufmerksame Bürger dazu aufruft, die Polizei mit Meldungen bei ihrer Überwachung, ob sich auch alle brav an die Maßnahmen halten, zu unterstützen.

      Am Abend dieses Tages, während dessen ich mit vielen verängstigten und verunsicherten Menschen gesprochen habe, platzt mir der Kragen und ich schreibe einen Leserbrief, der wohl nie irgendwo erscheinen wird, da die Presse inzwischen einfach nur 1: 1 wiedergibt, was die Politiker von sich geben. Neue Rubriken heißen „Zuhause“ oder „Kinder, Kinder“, hier werden hochklassige brandaktuelle News verbreitet – wie z.B. Bastelanleitungen für eine Maske für den Osterhasen, Rezepte für Omas besten Apfelkuchen oder Anleitungen zum richtigen Händewaschen [gemäß dem Motto: „Ihr wascht Euch die Hände, WIR waschen Euer Gehirn!“]. Auch die IKEA-Reklamen des im Übrigen natürlich überall außer in Schweden geschlossenen Möbelhauses rufen zum hyggeligen4 Zuhausebleiben mit im Internet bestellten Polstermöbeln auf. Ich frage mich zweierlei: 1. Tun die Firmen das, weil ihre Hirne schon erfolgreich gewaschen sind oder einfach nur, um weiter ihren Kram zu verkaufen (weil Gartenmöbel und Großfamiliengrills grad uncoolerweise echt schlecht laufen)? 2. Wie sollen eigentlich die Boten von Hermes und andere Freunde der Paketlogistik zu Hause bleiben, die uns den ganzen Sch. liefern sollen, den wir brauchen, um hyggelig zu Hause bleiben zu können?

      4 hyggelig ['hyg

li] = Dänisch für: gemütlich, heimelig, bequem, behaglich, nett

       Tag 16

      Mein Leserbrief:

      Gedanken über Werte – ein Appell

      Angst ist ein schlechter Ratgeber – das weiß jeder. Dennoch beherrscht sie dieser Tage alles. Ja, wir haben alle mit dem Verstand begriffen, dass der Sinn der derzeitigen freiheitsberaubenden Maßnahmen die Reduktion der Replikationszahl des Virus und hierüber der Schutz der Vorerkrankten unserer Gesellschaft ist – gefühlsmäßig jedoch haben wir verstanden, dass wir Angst haben müssen: Angst vor anderen Menschen, Krankheit, Tod.

      Oder ist es mit Vernunft zu erklären, wenn mein Kind beim Überschreiten der roten Linie im Supermarkt panisch von der Kassiererin angeherrscht wird? Ist Vernunft der Anlass, dass Nachbarn meiner Schwägerin, als sie ihre zwei Kinder mit einem dritten draußen spielen sahen, die Polizei riefen?

      Angst, die all diese „Maßnahmen“ (hoffnungsvoll ein Favorit für das Unwort des Jahres 2020!) schüren, die jede deutsche Zeitung undiskutiert mitträgt und in gänzlich unreflektierter Weise gegen die sogenannten „Regelbrecher“ Stimmung macht.

      Dabei wäre spätestens jetzt Zeit für eine breite gesellschaftliche Diskussion über die Werte unserer Gesellschaft, was wir wofür zu opfern bereit sind. Hier ein Zitat aus der viel beachteten Stellungnahme der Epidemiologischen Gesellschaft zum Thema „Rocona“

      „Uns sollte dabei immer bewusst sein, dass diese Einschränkungen der Bürgerrechte menschlich, sozial, wirtschaftlich und auch gesundheitlich eine erhebliche Belastung für die Menschen und Unternehmen unseres Landes darstellen. Es ist daher notwendig, dass zu diesen Themen eine öffentliche Diskussion geführt wird – in der Kenntnis der unterschiedlichen Szenarien, der bevorstehenden Gefahren und der eigenen Möglichkeiten.“

      Zur geforderten öffentlichen Diskussion hier einige Anregungen:

      Was ist der Wert des Lebens, eines Lebens in unserer sich so gern als humanistisch und christlich verstehenden Gesellschaft?

      Hierzu einige Zahlen, die dieser Tage doch so beliebt sind:

      In den griechischen Flüchtlingslagern leben mehr als 40.000 Menschen unter menschenunwürdigen Bedingungen, mit der extrem hohen Gefahr von Seuchenentwicklung, nicht nur, aber auch durch Rocona.

      2.900.000 Flüchtlinge leben in der Türkei, als sich ein Bruchteil von ihnen in Richtung Europa aufmachen wollte, wurden sie mit Billigung von uns allen mit Tränengas und Wasserwerfern zurückgedrängt

      Über 10.000 Flüchtlinge ertranken im Mittelmeer in den letzten 4 Jahren.

      Was ist der Wert eines Lebens? Ist der Wert eines deutschen Lebens höher als der eines Flüchtlings? Wie sonst ist es zu erklären, dass ein weitgehendes Aussetzen des Grundgesetzes dieser Tage als völlig akzeptable und nicht widersprochene Maßnahme zum Schutz des Lebens von (je nach Statistik) 0,5-5 % der Bundesbürger hingenommen wird, während unsere Antwort auf humanitäre Katastrophen außerhalb unseres unmittelbaren Blickfeldes Wasserwerfer, Tränengas und „Ablasszahlungen“ in die Kassen eines frauenfeindlichen Diktators sind?

      Und dann ist da noch die Freiheit. Ein Wert, der sogar (zusammen mit dem derzeit ausgesetzten (Grund-) Recht) Eingang in unsere Nationalhymne gefunden hat. Ein Wert, dessen Wichtigkeit im Verlauf gerade unserer deutschen Geschichte extremen Schwankungen unterlegen war und vielleicht erst jetzt, für diese und die letzte Generation von Heranwachsenden in ihrer ganzen Vollumfänglichkeit zur Selbstverständlichkeit geworden ist: Die vollkommene Freiheit des Denkens, Handelns, Urteilens und der Fortbewegung sowie Meinungsäußerung – unabhängig von Geschlecht, Bildungsgrad oder Herkunft.

      Augenreibend