David schaute zu der Ansammlung von Menschen rüber, die sich vor etwa einer halben Stunde auf der Straße versammelt hatte. Der Anführer der Räuberbande - zumindest schien er es zu sein - unterhielt sich gerade mit einem orientalisch aussehenden Mann. Er war dunkelhäutig, hatte über seinem Kopf ein Tuch zu einem Hut gewickelt, unter dem ein paar schwarze Haare herausschauten und er trug auf dem Rücken zwei über Kreuz verschnürte Krummschwerter, deren Griffe über die Schultern hinausragten. Seine bunten Kleider baumelten an ihm herab - sie wehten sogar ein wenig im Wind. Dieser Mann hätte jederzeit noch jemanden mit hineinnehmen können, so viel Platz gab ihm die Hose. »Vielleicht …« lachte David in sich hinein »… war es früher mal ein Zelt gewesen.« Aber dann blickte er dem schwarzen Mann direkt in sein dunkles vernarbtes Gesicht und plötzlich verging ihm das schmunzeln und ihm wurde erneut bewusst, dass er noch immer gefesselt auf dem Boden lag, und er bald vielleicht etwas Gesellschaft von einigen hungrigen Muselmanen bekommen würde. Dieser schwarze Mann da vorne - wer auch immer das war - erschien David plötzlich äußerst böswillig und jähzornig, und er wurde etwas unruhig bei dem Gedanken, dass dies vielleicht sein neuer Anführer werden könnte. David hatte schon viele unangenehme Anführer gehabt und sein halbes Leben lang stand er unter dem Kommando von irgendwelchen argwöhnischen oder launischen Aufschneidern, aber mit einem Osmanen hatte er es noch nie zu tun gehabt – er hatte lediglich von ihnen gehört. Angeblich hatten diese Kerle europäische Kinder zum Fressen gern, das wurde jedenfalls immer behauptet.
Robert kannte diese Art Mensch - hier stand einer der gefürchteten Sarazenenkämpfer aus der Gegend um Jerusalem. Das waren Männer, denen man sagenhafte Geschichten nachsagte und die legendär und wahrlich berüchtigt waren, im Umgang mit ihren glitzernden Krummsäbeln. Unheimliche Gerüchte von menschgewordenen Bestien und teuflischen Unholden sponnen sich um diese Kerle, deren Kraft und Intelligenz alles übertraf, was in der westlichen Welt bekannt war. In Kampfkunst und Geschicklichkeit konnte man es mit denen nicht aufnehmen. Das war im Übrigen auch, so wurde jedenfalls immer wieder beteuert, der Grund für das klägliche Versagen der Kreuzritter und Templer, die Jerusalem irgendwann gegen diese Bastarde verloren geben mussten. Nichts und niemand konnte sich denen auf Dauer in den Weg stellen, ohne dabei den Kopf zu verlieren. »Kein Wunder …« dachte Robert und er war nicht der einzige, der das dachte »… denn die standen, und stehen wahrscheinlich noch immer, mit dem Teufel oder anderen Dämonen im Bunde.« Angeblich hatten diese arglistigen Kämpfer sogar eine Art ausziehbaren Zylinder, eine verschiebbare Röhre mit Gläsern drin, durch die man hindurch blicken konnte, und in der die Welt erheblich größer erschien, als sie tatsächlich war, aber Robert hatte das immer für ziemlichen Unsinn gehalten. Da kam ihm die Dämonentheorie schon etwas naheliegender vor.
Der letzte Kreuzzug war zwar schon fast zweihundert Jahre her, aber man hegte noch immer einen starken Groll gegen diese grotesken Ungläubigen, diese Hinterwäldler aus Vorderasien. Ab und zu riefen Kreuzfahrer noch einmal zum Kampf gegen verschiedene Ungläubige auf - aber damit hatte es sich dann auch schon. Im Grunde war das Thema für die Kirche erledigt, hatten die Ungläubigen zuletzt doch noch obsiegt. Aber Osmanen im eigenen Land zu beherbergen, das war dann doch etwas anderes. Robert war daher auch völlig unklar, warum dieser Bastard hier - mit einem Duzend Kollegen - auf offener Straße und mitten in Frankreich, einfach so mit einer Meute von Sklaven, durchs fremde Land ziehen durfte? »Wenn das die Templer wüssten …« dachte er »… dann gäb’s aber Ärger.« Aber die Templer und auch die Prieure de Sion waren allesamt schon seit hundertfünfzig Jahren tot - Giovanni hatte ihm von denen erzählt. »Die hätten ihnen schon gezeigt, was es heißt durch Frankreich zu laufen und Leute zu verkaufen« glaubte Robert. Ironischerweise waren die Templer nicht bei den Kreuzzügen umgekommen, wie man vielleicht vermuten könnte. Es war eher so - und das wusste Robert nur allzu gut - dass sich die Prieure irgendwann von den Templern abgespalten hatten. Es ging wohl um das Grab Jesu und dessen Beigaben. Angeblich war dort auch der heilige Gral versteckt worden und der sollte ja - und das glaubte auch Robert aus gutem Grund - das ewige Leben bringen. Die Templer waren damals in Jerusalem dazu ausgesucht worden, den Becher von Jesus Christus versteckt zu halten, oder sogar wegzuschaffen, falls nötig. Jedenfalls war man sich plötzlich nicht mehr einig, ob man den Gral benutzen oder nur hüten sollte, und so hatten sich die Templer irgendwann entzweit, anschließend bekriegt und dann gegenseitig umgebracht. Manche wurden vorher auch von der Kirche verfolgt und als Ketzer verbrannt. Und jetzt gab es anscheinend niemanden mehr, der diese Ungläubigen draußen halten konnte oder wollte.
Robert betrachtete die Gesellschaft ganz genau. Dass die hier einfach so Sklaven von hier nach dort verschieben durften, konnte eigentlich nur eins bedeuten: Ludwig XI. hatte mit den Muselmanen ein Abkommen geschlossen, in denen er die orientalische Meute dazu berechtigte, in Frankreich Sklaven einzukaufen. Sklaven, die dann wahrscheinlich von der Küste aus, zu den Türken oder bis nach Mesopotamien verschleppt werden sollten, wo sie dann bis an ihr Lebensende unfreie Dienste verrichten mussten. Es blieb allerdings noch immer die Frage, warum man seine eigene Bevölkerung in die Sklaverei schickte, oder waren das gar keine Franzosen, die sich da in einer Reihe aufgestellt hatten und einer nach dem anderen den Trinkbecher gereicht bekamen? Es konnte sich natürlich auch um Landsmänner aus Calais handeln, die vielleicht ein paar Tage zuvor noch brav gekämpft hatten und jetzt gefangen genommen worden waren. »Ist leider nicht zu sehen, von hier aus« dachte Robert, der noch immer nicht wahrhaben wollte, dass er und David bald dazu gehören würden.
David dagegen hatte bereits eindeutig erkannt, wer der nächste Unfreie sein würde. Er war schon des Öfteren eine Art Sklave gewesen, und deshalb konnte er sich nur allzu gut vorstellen, was sie in den nächsten Monaten und Jahren erwarten würde. Trotzdem, obwohl er es gewohnt war, ein Unfreier zu sein, war das hier doch noch etwas anderes. Ein richtiger Sklave zu sein, bedeutete sicher erheblich mehr Einschränkungen, als auf einem Kriegsschiff Kartoffeln schälen zu müssen. Und dann sollte er diese Dienste auch noch in einem völlig fremden Land ableisten, in einem Land, in dem man ihn wahrscheinlich auch mit Zunge nicht verstehen würde. Davids Magen reagierte plötzlich sehr merkwürdig, er schien sich drehen zu wollen - genauso wie sein Kopf. Sein Innerstes verstand offenbar besser, als er selbst, wie seine Zukunft bald aussehen würde, und dabei hatte doch alles so gut angefangen - mit Robert.
David blickte zu ihm rüber. Roberts Miene schien noch immer nicht akzeptieren zu wollen, dass auch er bald da vorne stehen würde. Er sah noch immer so aus, als wenn ihn das Ganze gar nichts angehen würde. Fast unbeteiligt schaute er in Richtung Sklavenkarawane. Immer noch versuchte er nur zu ergründen, was für Landsmannen diese Leute wohl waren. David wusste, dass es bald völlig egal war, aus welchem Land man kam oder besser gekommen war. Bald würde er zumindest nur noch ein Sklave aus dem Hause »Achmet Abdulla« sein. Bald würde seine eigene Nationalität nicht mehr existieren.
Minuten des Wartens vergingen, da ertönte ein Pfiff, und jetzt wurde auch Robert eiskalt erwischt. Drei Männer aus der Runde des Räuberhauptmanns, die dem Schauspiel des Verhandelns aufmerksam gelauscht hatten, kamen und fuchtelten mit ihren Degen vor der Nase von Robert und David herum. »Los jetzt, hoch mit euch« schnauzte sie einer der Räuber an. Auch die anderen Gefangenen mussten aufstehen, und im Gänsemarsch wurden, mit Robert und David, etwa ein Duzend Leute zum Waldrand geführt, wo sie ein anderer Orientale beschaute. Ihr Mund wurde geöffnet und die Zähne wurden sorgfältig untersucht, und zum ersten Mal sah man ein ganz und gar ungläubiges Staunen in Robert’s Augen, denn plötzlich wurde er sich der wahren Situation, in der er sich gerade befand, bewusst.
Der Orientale fasste jetzt auch noch ihre Arme und Beine an, wodurch er wohl die Muskeln der Ware erkunden wollten. Der orientalische Beschauer nahm keinerlei Rücksicht auf Stand oder Herkunft. Im Gegenteil, er fasste eher noch kräftiger zu, wenn er den Eindruck hatte, es mit einer gehobeneren Persönlichkeit zu tun zu haben. Aber dann drehte er sich um und nickte dem räuberischen Wirt zustimmend entgegen und anschließend floss Gold - und das nicht zu knapp, wie Robert erstaunt feststellte. Offenbar hatte der Anführer der Räuberbande nichts von dem vergessen, was er als Geschäftsmann zuvor in seiner Kneipe in Paris gelernt hatte.
Robert blickte zu David. Tröstend suchte er seine Augen, doch die wirkten nur glasig und starrten eher wie hohle Fischaugen, als dass sie mutig und hoffnungsvoll ausgesehen hätten. »Wir kommen hier wieder raus …« sagte Robert zu ihm