Eigentlich hatte sie schon seit vielen Jahren von dieser verlogenen Gesellschaft weg gewollt, von diesem System, in dem Korruption und Vetternwirtschaft nicht die Ausnahme, sondern die Regel waren, in dem immer dieselben Familiendynastien dieselben überbezahlten Stellen bekleideten. Selbstverständlich mit Steuergeldern bezahlt. Grossvater, Vater, Tochter, Enkel. Und immer dieselben Familien sassen im Stadtrat und liessen es sich dank üppiger Spesengelder gut gehen.
Sie hatte keine Lust mehr gehabt, das Leben dieser modernen Raubritter zu finanzieren. In den späten Siebzigerjahren hatten ihre Eltern dagegen gesperrt auszuwandern, was Susi nachvollziehen konnte. Sie hatten sich zu alt gefühlt und sich vor der möglichen Mehrarbeit gefürchtet. Auch Susis Versprechen hatte nichts geholfen, dass die Eltern lediglich eine Reise machen müssten und alles andere für sie erledigt würde.
Beim nächsten Auswanderungsversuch hatte Fionn seiner Freunde wegen nicht gewollt. Auch das hatte sie respektiert. Er sollte nicht so isoliert sein wie sie es gewesen war. Andererseits, er war zu jung um ihn allein zurück zu lassen. Im Laufe des Lebens verändern sich Dinge, Freunde kommen und gehen. Wie das Wetter. Irgendwann jedoch war der Tag gekommen, an dem sie sich gesagt hatte: jetzt oder nie. Wer mag, kommt mit. Sie war so alt gewesen wie ihre Eltern damals. Ausser Fionn hatte sie niemanden mehr.
Nach ihrer Auffassung verhielt sich das Leben ähnlich wie ein Wassermolekül in einem Fluss. Manche Bindungen hielten etwas länger, andere nur einen Wimpernschlag. Weiterziehen war die Devise, ohne sich jedoch plan- und hilflos treiben zu lassen. Wer sich weigerte, gelangte, mit etwas Pech und wenig Glück, in einen Seitenarm mit modrigem Wasser. Selbstredend wäre es bequem gewesen, dort zu verharren, in den Tag zu leben und den Rest des Lebens vor sich hin zu dümpeln. Aber wer mochte schon längerfristig in modrigem Wasser baden? Hilf dir selbst, sonst hilft dir keiner, das hatte sie ihren Kindern von klein auf beigebracht.
Das Brennen der Nesseln auf ihrer Haut nahm sie nur peripher wahr. Es war nicht zu ändern und somit auch nicht wert sich darüber zu ärgern. Das war eine der Lebensregeln, welche ihr Muëti und Vati mitgegeben hatten. Zu akzeptieren, was man nicht verändern konnte, jedoch anpacken, wenn man etwas tun konnte. Susis Herkunft war für Aussenstehende ziemlich verwirrend. Mehr Menschen als üblich gehörten zur Familie. Genau genommen war sie aber nicht mit allen verwandt, denn Familie kann auch aus dem Herzen kommen.
Familie mit dem Herzen, nicht mit dem Blut
Muëti und Vati, samt Greti, hatte sie gefunden als sie knapp drei Jahre alt gewesen war und gleich «adoptiert», so gut man das als Kind eben konnte. Die beiden hatten keine Enkelkinder und sie keine Grosseltern, die auch nur im geringsten Wert auf ihre Anwesenheit gelegt hatten. Ihre Eltern fanden die Idee gut. So zogen sie zu Muëti, Vati und Greti ins grosse, uralte Sandsteinhaus. Heute würde man es wohl eine Winwin-Situation nennen. Zuvor hatten sie in einem Mehrfamilienhaus gelebt, umgeben von viel Gewalt, die notfalls auch mit Schusswaffen ausgetragen worden war. Susi erinnerte sich nicht sehr gerne an diese Momente.
Unter dem Dach hatte ein Fahrlehrer gelebt, dessen Frau, wie im Treppenhaus getuschelt wurde, ein «Gschleipf» mit dem Versicherungsvertreter aus dem Erdgeschoss hatte. Susi wusste damals nicht, was ein «Gschleipf» war, sie fühlte aber, dass man sich darüber aufregen musste. Eines Tages kam dieser Treppenhausklatsch wohl auch dem Fahrlehrer zu Ohren. Zuerst vernahm man nur wütendes Geschrei und sah allerlei Einrichtungsgegenstände aus dem Fenster im obersten Stock fliegen und mit grossem Geschepper im Garten zerbersten. Es war früher Abend, alle schon zu Hause, aber die Kinder noch nicht in ihren Betten. Eine Türe nach der anderen öffnete sich und die Familien strömten ins Treppenhaus. Susi konnte die Angst der Frauen fühlen. Auch die Hilflosigkeit der Männer.
Der Versicherungsvertreter war nicht ins Treppenhaus gekommen.
Einen Moment war es totenstill, dann ging das Getuschel los: «Jetzt hat er sie kaputtgemacht.» Dann knallte oben eine Türe und der Fahrlehrer stürmte laut schreiend mit dem Karabiner die Treppe hinunter. «Wo ist der Sauhund!» Susi fürchtete um ihren Hund, denn das Wort Sauhund kannte sie noch nicht. Vom Versicherungsvertreter war nichts zu sehen oder hören. Niemand ging zurück in die Wohnung, keiner wagte zu atmen. Die Kinder und Frauen weinten, gingen aber auch nicht in die Wohnungen zurück. Ein ohrenbetäubender Knall, gefolgt vom Splittern einer Wohnungstür weckte die Erwachsenen aus ihrer Starre. Mütter zerrten, geschoben von ihren Ehemännern, ihre Kinder in die Wohnungen zurück und Susis Vater platzte der Kragen: «Nun ist aber genug Heu gefahren!» Er stürzte sich auf den Fahrlehrer, um ihm das Gewehr zu entreissen. Mutter schrie in Panik: «Simme, lass sein, hör auf!» Aber wenn Vater sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, war er stur wie tausend Rinder. Zwei weitere Schüsse hallten durchs Treppenhaus.
Bange Stille.
Es dauerte ewig, bis die Polizei kam. Der Fahrlehrer lag am Boden und Susis Vater sass rittlings auf seinem Oberkörper. Vater mochte klein sein, hatte aber nicht nur die Sturheit einer Rinderherde, sondern auch deren Kraft. Ob ihn Mut oder Dummheit zu seiner Aktion getrieben hatte, wusste Susi nicht. Für sie war er immer ein Held, wie wohl alle Väter für ihre Töchter Helden sind. Nach diesem Vorfall, stand endgültig fest, dass die Familie ausziehen wollte und so kam Susis Liebe zu Muëti und Vati gerade Recht.
Muëti war sehr alt. Vor allem, wenn man selbst noch jung war wie Susi. 86 Jahre, unvorstellbar. Jedenfalls konnte sie sich das nicht vorstellen. Ihre Eltern waren mit ihren 32 Jahren schon viel, viel älter als sie. 86 Jahre. Wahnsinn. Und Vati? Er war noch viel älter, 93 Jahre. Susi konnte nicht einmal bis zwanzig zählen, 93 musste viel mehr sein. Ganz bestimmt! Greti, die Tochter der Beiden, war im Alter ihrer Eltern und leitete ein Kinderheim der Pro Juventute. Zuvor war sie Handarbeitslehrerin gewesen. Oh, sie konnte die schönsten Sachen herstellen und das tat sie auch, wenn sie ihre Eltern besuchte und Susi da war. Sie brachte ihr sogar das Stricken bei. Dazu gab sie Susi einen grossen Wollknäuel, fast so gross wie ihr Kopf, zeigte ihr, wie sie die Nadeln zu führen hatte und liess sie dann machen. Von Zeit zu Zeit fiel aus dem Knäuel eine Kleinigkeit heraus, eine bunte Glasmurmel, ein winziges Fläschchen 4711, bunte Bildchen, ja sogar ein 1-Fränkler. Susi strickte, als gelte es die ganze Welt mit Topflappen zu versorgen.
Natürlich hatte Susi selbst auch Grosseltern. Drei verschiedene, genau gesagt. Da war zum einen Granny, die Mutter ihres Vaters. Susis Mutter konnte ihre Schwiegermutter nicht ausstehen. Das war wohl der Grund, weshalb diese nicht mit ihnen umzog, sondern in ein Altersheim kam. Leicht hatte es Granny in ihrem Leben bestimmt nicht gehabt, aber das realisierte Susi erst im Laufe ihres eigenen Lebens, wie so vieles anderes auch.
Granny war als «Wilde» ins Land gekommen, als Frau eines gut-zu-nichts-Mannes, eines Giovannino-Tagediebs, der von hier nach dort und überall herumreiste. Er hatte sie auf einer Nordamerika-Reise geheiratet und mit zurück in die Schweiz gebracht. Um Geld musste er sich keine Sorgen machen. Um alle anderen Dinge kümmerte er sich auch nicht wirklich. Granny war eine Cherokee-Indianerin, für ihn einfach ein etwas lästiges, jedoch exotisches Wesen, das sich nicht mehr abschütteln liess. Als erste Amtshandlung war sie christianisiert worden und hatte einen christlichen Namen bekommen. Was muss, das muss. Wo kämen wir sonst hin?!
Sie war blutjung, als ihr erstes Kind zur Welt kam. 16 Jahre. Es folgten noch achtzehn Kinder. Aber nur die Knaben überlebten. Susi hatte sich später ihre Gedanken dazu gemacht. Üblicherweise sind Babyknaben fragiler als Babymädchen. Alle Mädchen waren offenbar an Erstickung (plötzlicher Kindstod) gestorben. Ein Schelm, wer Böses denkt. Susi war ein Schelm, vor allem nach dem sie Bibeleintragungen rund um den Tod der Mädchen las, die Granny geschrieben hatte.
Sie sollen hochmütig gewesen sein, diese Babygirls im Alter von wenigen Tagen oder Wochen. Der Vater der Mädchen hatte ihnen