Ein herzliches Dankschön geht an Britta van den Boom, welche die Wiedergabe ihres Liedtextes erlaubt hat.
Dank gebührt Christof Ruckli, er verfasste den Klappentext und stand mit kompetentem Rat und Tat bei.
Gewidmet ist dieses Buch:
Susis Eltern und Kindern, sowie deren Nachkommen
An Stelle eines Vorwortes
Ein Liedtext von
Britta van den Boom
Tief im Wald, in einem See, lebt eine Wasserfrau.
Die Haut so bleich, das Haar so grün, so wunderschön sie anzuseh'n.
Sieh und sing, was geschah, sieh und sing was kommen mag.
Ein Wanderer kommt den Weg daher, er beugt sich nieder, ihn
dürstet sehr.
Die Nymphe taucht zu ihm herauf, so nimmt das Schicksal
seinen Lauf.
Er verliert sein Herz beim ersten Blick, ist gebannt, verlor'n,
kennt kein zurück.
Doch der Nymphe Blut ist kalt und grün, sie kann die Liebe
nicht versteh'n.
Er bittet sie: "Komm mit mir heim!" - sie kann es nicht und er
geht allein.
Doch schenkt sie ihm einen Nymphenstein, gemacht aus Blut,
moosgrün und rein.
Er kommt zurück im nächsten Jahr, und alles ist so wie es war.
Erneut kehrt er alleine heim, in der Hand den zweiten Stein.
Auch im dritten Jahr am klaren See tut beim Abschied das Herz
ihm weh.
Er sang mit ihr so manche Nacht, doch Liebe hat's ihr nicht
gebracht.
"Ich versteh' Dich doch nicht, schöner Menschenmann, solch'
Sehnsucht mein Volk nicht empfinden kann!"
Doch der Nymphe Blick ist seltsam weich, als ihm wieder den
grünen Stein sie reicht.
Sie wartet auf ihn im vierten Jahr, wünscht verwundert sich, er
wär schon da.
Doch der Wald bleibt still, und der Wald bleibt leer, und sie fragt
sich gar: "Kommt er nicht mehr?"
Endlich eine Gestalt tritt zum See heran, doch es ist eine Frau,
nicht der Wandersmann.
"Vergib, Nymphe, mir, denn ich bringe Dir Not, der Mann, der
Dich liebt, ist seit Wochen schon tot."
Sie gibt ihr zurück jeden Nymphenstein, und die Wasserfrau
taucht in den See hinein.
Der Schmerz, den sie fühlt, ist ihr fremd und schwer… denn rot
ist ihr Blut, kalt ist es nicht mehr.
Sieh und sing, was geschah, sieh und sing was einmal war.
Mitten im Leben
Susi war einen weiteren Tag damit beschäftig, mannshohe Brennnesseln zu roden. Nie zuvor hatte sie solche Unkrautwurzeln gesehen, daumendick und mehrere Meter lang. Entsprechend kräftig musste man zerren, um sie überhaupt herauszubekommen. Es hätte viel zu tun gegeben im Haus, aber die Arbeiten mussten erledigt werden, wenn die äusseren Umstände passten. Das Wetter konnte von einer Minute auf die andere umschlagen.
Erst zwei Wochen waren sie hier oben, aber es fühlte sich an, als ob sie nirgendwo anders hingehören würden. Hier, in Rauschbachwald, im Kanton Bern, auf weit über 1000 Meter über Meer, hier am Ende der Welt, fühlte sie sich zu Hause. Allein. Nur sie und Fionn. Sie fragte sich manchmal, ob er es auch gut fand, oder ob er einfach mitgekommen war, weil sie es gewollt hatte – und weil sie die einzigen Menschen dieser Familie waren, die sich auch als Familie verstanden. Zumindest hoffte sie, dass es ihm auch gefallen würde auf diesem einsamen Stückchen Erde.
Sie hatte Angst vor ihrem eigenen Mut und versuchte dies so gut es ging, für sich zu behalten. In ihrem Leben hatte sie an seltsamen Orten auf der halben Welt gelebt, aber immer ohne Verantwortung für andere Lebewesen. Diesmal war es anders. 26 Seelen vertrauten ihr und hofften auf ihre Kompetenz. Wäre diese Tatsache nicht so befremdlich gewesen, hätte sie gelacht. Ausgerechnet ihr vertrauten sie, ihr, die selbst in der permanenten Angst lebte, alles falsch zu machen und zu versagen. Das Leben hatte sie gelehrt, ein Pokerface zu tragen, sich nichts anmerken zu lassen. Hinterher, im stillen Kämmerlein, war immer noch genügend Zeit für Tränen.
Wochen zuvor hatte sie 90 % ihrer Sozialkontakte beendet. Für ein paar ultrakurze Momente hatte sie sogar darüber nachgedacht, sich in Luft aufzulösen. Einfach zu verschwinden. Aus Grosskopfkaff. Eine Weltreise zu machen oder sonst etwas Seltsames, was man nicht tat, wenn man Verantwortung hatte, zum Beispiel Zigaretten holen, auch wenn man nicht rauchte. Oder sich aus dem Leben zu verabschieden. Diese Gedanken waren nur kurz durch ihren Kopf gehuscht, bevor sie sich im Klaren war, dass sie das nicht konnte. Sie würde den Verstand verlieren, aus Sorge um die Lebewesen, die sie im Stich gelassen hätte. Fionn hatte einmal gesagt, sie sei das geborene Muttertier und ein Kontrollfreak obendrein. Vermutlich hatte er Recht. Sie konnte sehr gut fünfe gerade sein lassen. Bis zu einem gewissen Punkt. Man überliess nicht einfach Schutzbefohlene ihrem Schicksal.
Dennoch war eine Sache sehr sicher gewesen, sie hatte nur noch weg gewollt von dem Ort, wo sie gelebt hatten. Verschwinden aus dem Aargau, wo die Luft so schmutzig war, dass der Schnee, wenn es denn einmal welchen gab, einen schwarzen Schleier trug. Selbst bei schönstem Sommerwetter hatte ein bedrückender Grauschleier über der Senke gelegen, wo ihr Wohnort lag. Ab Ende Oktober hatte dichter Nebel alles eingehüllt, der bestenfalls zur Mittagszeit verschwand, aber sehr oft den ganzen Tag blieb. Nebel konnte ausnahmsweise auch romantisch sein oder zumindest geheimnisvoll. In Grosskopfkaff war er nur erdrückend. Deprimierend. Hartnäckig tagsüber und ebenso hartnäckig bis in den Frühling hinein. Dafür war Schnee Mangelware. Dreaming of a white Christmas ging nur, wenn sie Musik hörte.
Nein, das wollte sie nicht mehr, sie wollte ihren Lebenstraum verwirklichen. Die letzte Zeit die ihr noch verbleiben mochte, das tun, was sie wollte. Den Traum verwirklichen, den sie mit elf Jahren zu träumen begonnen hatte. Zumindest teilweise. Damals im Deutschunterricht hatte der Lehrer von Longo Maï erzählt. Von Menschen, die alles an den Nagel gehängt hatten, um ein einfaches Selbstversorgerleben zu führen, fernab jeglicher Zivilisation.
Ganz ehrlich gesagt, wäre sie viel lieber in die USA oder nach Kanada gezogen. In die unendlichen Weiten, in ein Blockhaus. Es gab viele Gründe, weshalb sie es dann doch nicht getan hatte. Was würde sein, wenn sie alt und dement würde? Die fremde Sprache vergessen würde? Nur noch eine Last für Fionn seiend, der dann ganz auf sich allein gestellt gewesen wäre. Und sie wollte nicht alles verlieren, was sie bis dahin aufgebaut hatte. In Übersee hätten sie als Investoren einreisen müssen, ohne Sicherheit, tatsächlich bleiben zu können. Als Single konnte man kommen und gehen, wie man mochte, nicht aber mit so vielen Lebewesen im Schlepptau. Diese und die damit einhergehende Verantwortung wogen schwer in der Nein-Schale. Sie wollte ihnen keine solch beschwerliche und lange Reise in eine ungewisse Zukunft zumuten, auch weil sie nicht die geringste Möglichkeit einer Mitbestimmung oder eines Widerspruches hatten. Es war nicht ihre Art, andere willfährig zu machen. Sie wären vollkommen verängstigt gewesen. Hätten Stunden allein, ohne Bezugsperson, in fremder Umgebung und mit fremden Menschen ausharren müssen. Sie hätten vielleicht Todesängste ausgestanden und manche hätten sogar Wochen