«Im Prinzip wäre das möglich. Aber Sie gehen doch nicht wirklich davon aus, dass jemand vom Kirchenchor Frau Hug umgebracht hat? Das halte ich für ausgeschlossen.»
«Es kann natürlich auch ein Aussenstehender gewesen sein, aber es ist unsere Aufgabe, alles zu prüfen.»
«Ja, ich verstehe.» Der Diakon wischte sich den Schweiss von der Stirn. «Ich hole schnell den Schlüssel vom Kirchgemeindehaus. Sie können dort ihre Zeugen befragen, wenigstens in den nächsten Tagen. Bitte halten Sie mich auf dem Laufenden.»
«Selbstverständlich. Vielen Dank, Herr Amstutz. Könnten Sie uns eine Liste mit den Adressen und Telefonnummern der Kirchenchormitglieder und möglichst auch des Dirigenten und des Organisten beschaffen?»
«Kein Problem. Sie bekommen das bald.» Der Diakon eilte davon.
Heiri zückte sein Handy und verlangte Unterstützung.
DREI
Innerhalb kurzer Zeit hatten Mitarbeiter der Abteilung Leib und Leben der Kantonspolizei Zürich einen Raum im Kirchgemeindehaus eingerichtet. Die Liste des Diakons lag bereits vor. Die Befragungen konnten beginnen. Natürlich waren nicht alle Kirchenchormitglieder so schnell erreichbar, aber wenigstens ein paar davon.
Thomas Truffer, der Kirchenchorpräsident, kam zuerst, ein rundlicher, jovialer Mann mit offenem Gesicht. «Ja, Melanie war sehr unbeliebt. Sie hielt sich für etwas Besseres. Seit sie das Solo für Weihnachten bekommen hatte, war sie kaum mehr auszuhalten. Man soll ja über Tote nichts Negatives sagen, aber sie war ein fürchterliches Tratschweib. Sie war eine Intrigantin und hat über alle hübschen Frauen schlecht geredet.»
«Über jemanden im Speziellen?»
«Ja! Über Carmen Vico, die bisher die Solostellen gesungen hat, seit sie beim Chor war. Carmen ist jung und eine Schönheit. Alle lieben sie. Sie singt auch viel besser, als Melanie es tat.» Thomas Truffer lief dabei rot an. Es war offensichtlich, dass er zu den Bewunderern von Carmen gehörte.
«Hatte Frau Hug denn Feinde?», wollte Heiri Stampfli wissen.
«Niemand vom Chor mochte sie. Von einigen wurde sie regelrecht gemobbt.»
«Gemobbt?»
«Ja. Einer hat einmal einen nassen Schwamm mit farbiger Kreide auf ihren Stuhl gelegt, als sie sich setzen wollte.»
Bonsai lachte. «Das ist eher ein Kinderstreich.»
«Wer hat Frau Hug diesen Streich gespielt?», fragte Stampfli.
«Muss ich das sagen?»
«Ich denke, das müssen Sie.»
«Nun, es war Hansueli Meier. Er ist halt ein bisschen impulsiv, aber in Ordnung.»
Bonsai zückte Notizblock und Bleistift. «Wann haben Sie die Kirche gestern verlassen? Wohin sind Sie gegangen?»
«Wir sind wie immer im Restaurant „Leuen“* eingekehrt. Das Zusammensein nach der Probe ist genauso wichtig wie das Singen selbst. Ich habe nicht auf die Uhr geschaut, aber wir haben etwa zehn vor zehn oder fünf vor zehn die Kirche verlassen.»
«Zwischen 21.50 und 21.55 Uhr», notierte Bonsai gewissenhaft. «Wer war im „Leuen“ dabei?»
«Ziemlich viele. Die lange Probe machte Durst.»
«Wer alles? Hansueli Meier?»
«Nein.» Thomas Truffer wechselte wieder die Farbe, als ihm klar wurde, dass er seinen Freund anschwärzen musste. «Er wollte nach Hause.»
«Okay, Herr Truffer. Machen Sie mir bitte bis Morgen Vormittag eine Liste mit den Kirchenchormitgliedern, die gestern nach der Probe im „Leuen“ eingekehrt sind, und eine zweite mit den Leuten, die bestimmt nicht dabei waren. Geht das?»
«Ja, sicher.» Der Kirchenchorpräsident begann zu schwitzen.
Stampfli hatte noch eine Frage: «Wer blieb auf der Empore zurück, als Sie die Treppe hinunterstiegen?»
«Auf jeden Fall Melanie Hug. Sie war immer die Letzte, weil sie als Archivarin die Noten sortieren und in den Schrank zurücklegen musste. Hansueli Meier und Fritz Zürcher haben die Stühle zusammengestellt. Mehr weiss ich nicht.»
«Der Dirigent und der Organist?»
«Die gingen früh zusammen weg, weil Alex Zumbühl, unser Chorleiter, den Organisten zum Hauptbahnhof fahren musste.»
«Okay. Im Moment ist das alles. Wir kommen auf Sie zurück, wenn wir weitere Fragen haben. Hier ist meine Visitenkarte. Sie rufen mich bitte an, falls Ihnen noch etwas einfällt, egal, ob es Ihnen wichtig oder unwichtig erscheint. Jede Kleinigkeit kann entscheidend sein. Vielen Dank für Ihre Mitarbeit, Herr Truffer.»
Als Nächster war ein schlanker Mann mit Brille und wachem Blick an der Reihe.
«Grüezi*. Wie ist Ihr Name?», fragte Stampfli.
„Ich heisse Gabriel Winiger.“
«Sie sind Gemeindearbeiter?»
«Ja.»
«Okay. Der Diakon, Herr Georg Amstutz, hat uns erzählt, dass Sie gestern Abend bei ihm waren, um etwas zu besprechen. Haben Sie als Letzter die Kirche verlassen?»
«Nein, fast als Erster, kurz nach dem Chorleiter und dem alten Organisten. Ich wollte den Diakon nicht warten lassen.»
«Der Organist ist alt?»
«Ja, Otto Haller ist schon 75. Deshalb muss ihn Alex manchmal fahren, wenn die Tochter keine Zeit hat. Otto wohnt in Bern.»
«Er kommt von Bern, um hier den Orgeldienst zu versehen?»
«Ja. Es gibt nicht genug Organisten.»
«Wann genau haben Sie die Kirche verlassen?» Bonsai hatte wieder Bleistift und Notizblock gezückt.
«Es muss unmittelbar nach dem Probenende gewesen sein: zwischen 21.45 und 21.50 Uhr.»
«Und Sie haben sich direkt zum Diakon begeben?», wollte Stampfli wissen.
«Ja. Allerdings habe ich auf dem Weg dorthin noch eine Zigarette geraucht.»
«Was mussten Sie denn Wichtiges mit dem Mann besprechen? Hätte das nicht bis zum nächsten Tag warten können?»
«Ich bin, wie gesagt, Gemeindearbeiter und dafür zuständig, dass an Weihnachten zwei Weihnachtsbäume in der Kirche stehen. Die sollte ich heute Morgen fällen. Ich musste mich mit dem Diakon über die Grösse einigen.»
«Und - haben Sie die Bäume gefällt?»
«Selbstverständlich.»
«Ist Ihnen auf dem Weg zum Haus von Herrn Amstutz irgendetwas aufgefallen? Eine fremde Person zum Beispiel?»
«Nein, ich war alleine auf dem Weg. Dann kamen wohl die anderen Kirchenchormitglieder, denn ich hörte, wie die Kirchentür aufging und jemand lachte.»
«Vielen Dank, Herr Winiger. Wenn Ihnen noch etwas einfallen sollte, etwas, was Sie beobachtet haben, rufen Sie mich bitte an.»
«Okay, gerne.» Auch Herr Winiger bekam eine Visitenkarte der Kantonspolizei.
Eine kleine alte Frau mit Stock betrat den Vernehmungsraum. Sie hatte ihre grauweissen Haare straff zu einem Dutt hochgesteckt. Hinter der unkleidsamen Brille sahen ihre Augen aus wie Schlitze. Sie marschierte energisch zu ihrem Stuhl und nahm umständlich Platz. Dann zeterte sie los: «Ich habe in meinem ganzen 85-jährigen Leben noch nie mit der Polizei zu tun gehabt. Was wollen Sie? Ich, Magdalena von Blumenthal, habe nichts mit dem Mord an Melanie Hug zu tun, obwohl ich finde, sie hat den Tod tausendmal verdient.»
«Grüezi, Frau Blumenthal. Ich bin Heiri Stampfli von der Kantonspolizei und dies ist mein Mitarbeiter Delafontaine. Wir haben nur ein paar Fragen an Sie.»