Aber das darf kein Grund sein, zu resignieren oder in Zynismus zu verfallen. Der Mensch ist zunächst einmal, wie jedes andere Lebewesen auch, ein Produkt der Evolution. Somit ist seine Moral ein Ergebnis seiner Evolution. Man kann also Entwicklungen in unserer Moral als Ergebnisse unserer speziellen Entwicklungsgeschichte deuten. Es ist eine Tatsache, dass die Rechtmäßigkeit der Todesstrafe zu Zeiten von Charles Darwin kaum diskutiert wurde. Man hielt sie für richtig. Heute wird sie in immer mehr Gesellschaften auf diesem Planeten abgelehnt und abgeschafft. Insbesondere wird die Todesstrafe nur noch sehr selten öffentlich vollstreckt. China, das derzeit die Todesstrafe noch oft verhängt und vollzieht, zieht es inzwischen vor, dies heimlich zu tun und keine Zahlen zu nennen. Amnesty International bedauert die Situation in China, wurde dafür aber für den Rest der Welt in den letzten zehn Jahren optimistischer: Die Todesstrafe ist in Rechtsordnungen, in denen es sie noch gibt, für immer weniger Delikte vorgesehen und wird immer seltener vollzogen. Ähnlich ist es mit der Strafbarkeit von Homosexualität, die es in immer weniger Staaten gibt.
Da uns die Wissenschaft heute nicht mehr dazu dienen will, uns zu sagen, was moralisch richtig oder falsch ist, müssen wir anders an sie herantreten. Das kann so geschehen, dass wir die uns heute bekannten Erkenntnisse aus der Erdgeschichte und der Entstehungsgeschichte des Menschen dazu nutzen, uns auch die Entstehung unserer Moral zu erklären. Da die Entstehung von Moral in den menschlichen Gesellschaften ein Ergebnis der Erd- und unserer Entwicklungsgeschichte sein muss, ist das möglicherweise ein gewinnbringender Ansatz.
Weiter kann es sich lohnen, die geistesgeschichtliche Entstehung von Moralphilosophie und ihre Weiterentwicklung als Bestandteil der Entwicklungsgeschichte des Menschen zu betrachten und aus einer solchen Perspektive zu einem neuen Verständnis von Moral zu gelangen. Das soll in diesem kleinen Buch versucht werden.
1. Anthropozän
Wir stellen uns neuerdings ja gerne mal Außerirdische vor, denn wir wissen seit 1969, dass Menschen schon einmal auf dem Mond waren. Aber bereits viel früher wuchs unsere Unsicherheit mit unserem Wissen um die unendlichen Weiten des Weltraums. Schon im 18. Jahrhundert haben Wissenschaftler, unter anderem Immanuel Kant, herausgefunden, dass die „Nebel“, die man mit einem Fernrohr sehen kann, tatsächlich sehr weit entfernte Galaxien sind. Das Weltall wurde damit wesentlich größer, als es der damaligen Vorstellung entsprach, und die Grenzen unserer Vorstellungskraft wurden so um Lichtjahre erweitert. Spätestens mit dieser Maßeinheit des Lichtjahrs, das tatsächlich ein Längenmaß für 9,461 Billionen Kilometer und keine Zeiteinheit ist, wird unsere Fantasie überfordert. Wozu sollten wir uns Orte vorstellen, zu denen schon das Licht ein Jahr braucht? Und was sollen wir dort – körperlich wie gedanklich –, wenn es mit hoher Wahrscheinlichkeit weder dort noch auf dem Weg dahin irgendein Leben gibt? Zwar entdecken unsere Astronomen inzwischen Planeten, die Leben beherbergen könnten. Aber die sind für uns derzeit unerreichbar und können deswegen nicht näher erforscht werden. Das Gefühl der Einsamkeit unseres Planeten bleibt uns trotz ständig neuer Entdeckungen erhalten. Es scheint sich sogar mit jeder neuen Entdeckung zu verstärken; und das Unwohlsein wegen des eingangs beschriebenen Nichts wird wegen der vielen Lichtjahre, die mögliche Nachbarn von uns weg sind, auch nicht kleiner.
Je größer das Weltall für die Menschen wurde, umso mehr quälte uns die Frage, ob wir tatsächlich allein in diesem unendlichen Raum sind. Es entstand die Sehnsucht danach, es müsse irgendwo da draußen auch noch Leben geben. Dieser Wunsch war der Vater des Gedankens, dass es Außerirdische gibt. Manche von uns glauben inzwischen fest an ihre Existenz. Über diese Ufo-Gläubigen lächeln wir zwar, aber man kann trotzdem gut mit ihnen mitfühlen: Es wäre nicht schlecht, wenn eines Tages Außerirdische die Probleme, die sich für diese Welt abzeichnen, für uns lösen würden.
Stellen wir uns nun ein Raumschiff mit typischen Außerirdischen vor, so, wie sie in vielen Kinofilmen dargestellt werden. Sie sind menschenähnlich und wollen den Weltraum erkunden. Dabei sind sie technisch wesentlich versierter, als wir es derzeit sind. Für sie stellen die Distanzen des Weltraums und die Zeit, die man braucht, um sie zu überwinden, kein Problem mehr dar. Stellen wir uns weiter vor, dass diese Außerirdischen selbst keine Evolution mehr durchlaufen, sondern seit Hunderttausenden von Jahren unverändert immer wieder dasselbe machen. Unseren Planeten umrunden sie alle einhundert Erdenjahre mehrmals auf der Höhe eines Reisejets und beobachten dabei, was auf der Erdoberfläche geschieht.
Sie konnten so vor 200 Millionen Jahren das Auseinanderbrechen Gondwanas, des Superkontinents der südlichen Hemisphäre, beobachten und feststellen, dass die Erde in dieser Zeit vor allem geologisch bemerkenswerte Veränderungen durchlaufen hat. Aber biologische Veränderungen waren aus der Reiseflughöhe mit bloßem Auge nicht zu bemerken: Das gilt selbst für einen über 30 Meter langen Dinosaurier, der vor 100 Millionen Jahren auf der Erde lebte, denn selbst der war für die Außerirdischen nicht zu erkennen. Aus dieser Höhe wahrnehmbare Veränderungen gab es nur bei der Vegetation: Die Erde war im Laufe ihrer Geschichte mal mehr und mal weniger grün.
Das Auftauchen der Vorfahren der Menschen änderte diese Wahrnehmung der Außerirdischen sicher nicht. Der Umstand, dass der Homo Habilis vor zwei Millionen Jahren die Fähigkeit entwickelte, selbst Feuer zu entfachen, war für die Menschheitsgeschichte zwar bahnbrechend, aber man konnte diese Feuer in Reiseflughöhe nicht sehen. Dass sich vor 300.000 Jahren in Nordafrika eine Menschenaffenart Homo Sapiens bildete, die in der Folgezeit in mehreren Wellen die Welt besiedelte, war ebenfalls keine Veränderung, die man als Außerirdischer hätte wahrnehmen können.
Die Geschichte im engeren Sinne begann vor 6.000 Jahren. Städte wie Babylon oder das alte Rom zur Zeit von Christi Geburt konnte man sicher aus der Luft erkennen. Aber diese Veränderungen wären für die Außerirdischen auch noch nicht besonders interessant gewesen. In ihrer Wahrnehmung hätten sich hier Lebewesen eine größere Fläche der Erdoberfläche als zusammenhängenden Lebensraum erschlossen. Die Nadelwälder der Taiga bedecken heute noch riesige Flächen der Nordhalbkugel und werden aus einem Reisejet als das Territorium der Fichten, Kiefern, Tannen und Lärchen wahrgenommen. Die sogar aus zehn Kilometern Höhe noch sichtbare Bevölkerung größerer Flächen dieser Erde durch einzelne Lebensformen, wäre für die Außerirdischen keine wirklich neue Beobachtung gewesen. Das war in den Millionen Jahren davor auch schon der Fall. Es hätte sich auch in den weiteren Jahrhunderten der Geschichte im engeren Sinne nicht sehr geändert. Die Welt aus einer Höhe von zehn Kilometern stellte sich den Außerirdischen auch in den letzten 6.000 Jahren immer als ein Wechsel von unterschiedlicher Vegetation oder geologischer Formation dar. Bemerkenswerte Veränderungen der Erdoberfläche durch Tiere oder durch die Menschen gab es nicht.
Aber das, was quasi urplötzlich, nämlich im engen Zeitraum zwischen den letzten beiden Erdumrundungen mit einem Abstand von einhundert Jahren, wahrgenommen worden wäre, hätte wirklich Beachtung gefunden und diese auch verdient: Der Mensch hat das Antlitz der Erde in dieser Frist grundlegend neugestaltet. Die Revolutionierung von Landwirtschaft und Bergbau waren schon deswegen notwendig, um die explosionsartig ansteigende Weltbevölkerung mit Nahrung, Rohstoffen und Energie zu versorgen. Hinzu kommen die Industrialisierung und das Entstehen der modernen Verkehrswege und Metropolen, die große Flächen der Erde plötzlich in der Nacht zum Leuchten gebracht haben. In der bisherigen Erdgeschichte ist diese Entwicklung ohne Beispiel. Keine bisher auf diesem Planeten lebende Kreatur hat erreicht, dass sich die Erde auch aus einer kritischen Distanz von einigen Kilometern so sehr verändert hat, wie das die Menschheit in den letzten zwei Jahrhunderten geschafft hat. Bei ihrem letzten Anflug zu unserem Planeten hätten die hier erdachten Außerirdischen schon vor Eintritt in die Atmosphäre