Doch auch wenn Erziehung (noch) nicht überwunden ist – ich bin voller Freude und Hoffnung. Denn es tut sich was, und das ist wundervoll: Es kommt Bewegung in alles und verkrustete Erziehungsmuster brechen gerade sichtbar auf. Unzählige Eltern suchen mich in meiner Praxis auf und lassen sich in ihrer Familiensituation begleiten und beraten, nehmen offen und interessiert an meinen Kursen teil, lassen sich zum Beispiel von mir in den Kursen »Kinder besser verstehen« in bindungs- und beziehungsorientierter Pädagogik schulen, sind bei der »Familienwerkstatt Kinder besser Verstehen« – einer von mir gegründeten weltweiten Online-Community für Familien – mit dabei und lassen sich langfristig den Rücken stärken in einer Gesellschaft, die wenig auf Beziehung, sondern vielmehr auf Erziehung setzt. Viele tausende Menschen lesen meine Bücher, hören meinen Familienrat-Podcast und besuchen mich auf meiner Lesereise, die von einer der größten Krankenkassen Deutschlands, der DAK-Gesundheit, im Bereich Prävention organisiert wird und sich unter dem Motto »Kindheit ohne Strafen« und »Was unsere Kinder brauchen« damit beschäftigt, was unsere Kinder zum gesunden Aufwachsen brauchen.
So bin ich fest davon überzeugt, dass sich gerade ein gesellschaftlicher Wandel vollzieht. Von der Erziehung hin zur Beziehung. Aus meiner eigenen Erfahrung heraus kann ich sagen, dass immer mehr Eltern, Pädagogen und Pädagoginnen es ganz bewusst anders machen wollen. Viele Erwachsene sind auf neuen Wegen, wollen ohne Sanktionen handeln und überlegen, was Kinder wirklich brauchen, was sie stark macht, und setzen auf eine konstruktive Beziehung zu Kindern.
Das heißt, die Entscheidung, es anders machen zu wollen, ist von vielen Eltern längst getroffen. Die einzig offene Frage ist häufig: Wie gelingt das denn? Wie kann ich es denn anders machen? Wenn ich nicht mehr sanktionieren, strafen oder mit Konsequenzen drohen, nicht mehr meckern und schimpfen möchte, was kann ich stattdessen machen und woran kann ich mich orientieren? Und in der Tat, hier gehen die Meinungen weit auseinander.
Eltern haben es nicht so leicht, sich zwischen den vielen Konzepten und verschiedenen Richtungen zu entscheiden, die für sich den Anspruch erheben, herkömmliche Erziehungsmechanismen nicht zu praktizieren und stattdessen den Schwerpunkt auf die Bindungstheorie und auf Beziehung zu legen. Das Bedürfnis des Kindes soll im Mittelpunkt stehen – und genau hier scheiden sich dann die Geister, es wird kompliziert. Denn oft sind Handlungsempfehlungen für Eltern nicht gut umsetzbar, und nicht alles, was bindungsorientiert scheint, ist auch beziehungsorientiert. So kann oder will nicht jede Mutter nach Bedarf das Baby tragen und/oder stillen, und nicht jede Familie kann oder will das Familienbett (Kinder und Eltern schlafen in einem Bett) praktizieren. Und es ist erst mal kein Zeichen für eine konstruktive Beziehung, wenn Eltern in Bezug auf Süßigkeiten- oder Fernsehkonsum auf die Selbstregulation des Kindes hoffen. In letzterem Fall werden oft vordergründige Wünsche mit wichtigen emotionalen Basis-Grundbedürfnissen verwechselt. Die ersten beiden Beispiele stellen Möglichkeiten dar, auf das Grundbedürfnis nach Nähe, Sicherheit und Geborgenheit einzugehen, sie sind aber nicht als Direktive zu sehen. Ein bindungs- und beziehungsorientiertes Familienleben muss nicht bestimmte Aspekte dogmatisch erfüllen. Im Gegenteil: Die Entscheidung einer Familie etwa für das Familienbett ist für sich genommen nicht das Kennzeichen eines neuen Umgangs, sondern eine höchst individuelle Entscheidung der Eltern, in dieser Form auf das Nähebedürfnis ihrer Kinder einzugehen. Es gibt aber viele verschiedene andere Möglichkeiten, das Bedürfnis nach Bindung zu beantworten – es darf für alle Beteiligten passen, also konstruktiv für die Beziehungen sein, und nicht unter Druck von einer Methode abgeleitet.
Dogmatische Einstellungen, denen ich oft begegnet bin, fördern Ratlosigkeit und Verunsicherung bei Eltern, vertiefen Gräben, und es entstehen Missverständnisse, was die Führung von Kindern, was Grenzen und die eigene Positionierung betrifft. Dies sogar innerhalb der Familie. Meine Erfahrung ist, dass Elternpaare, die es eigentlich gemeinsam anders machen wollen, durch diese Unklarheiten in Konflikt miteinander geraten. Den Vätern scheinen die Konzepte oft zu wenig praktisch umsetzbar, sodass sie schnell in eher autoritäre Handlungsmuster zurückfallen, und die Mütter haben große Sorge, dass sie die Grenzen ihres Kinder übertreten, Bedürfnisse missachten und nicht nach den bindungsorientierten Maximen handeln.
Auch für mich als Pädagogin war und ist oft zu wenig klar, worum es wirklich geht, wenn es heißt, dass die Bindung und Beziehung zu unseren Kindern doch das Wichtigste ist. Was hat daraus für den Umgang mit unseren Kindern konkret zu folgen? Deshalb habe ich mich in einem weiteren Teil des vorliegenden Buches damit beschäftigt, was die Grundlagen für eine bindungs- und beziehungsorientierte Haltung sein können, und im letzten Jahrzehnt eine ganz eigene Pädagogik und ein methodisches Vorgehen entwickelt – gerade auch in Abgrenzung zu den vielen anderen Richtungen, die sich mit der Bindungstheorie auseinandersetzen. Vielleicht kennt der eine oder die andere meine pädagogische Arbeit unter dem Titel: »Bindungs- und Beziehungsorientierte Pädagogik nach Katia Saalfrank« (kurz: buboks). Diese Pädagogik hat sich in den letzten Jahren als eigenständiger Begriff etabliert. Eltern profitieren hiervon insofern, als sie selbst befähigt werden, ihr Kind in seinen Verhaltensweisen ganz neu zu lesen und es dadurch erst mal einfach besser zu verstehen. Das nimmt Hilflosigkeit und versetzt Erwachsene in die Lage, wieder neu zu handeln. Die erste Frage lautet also nicht: »Was kann ich tun?«, sondern: »Was ist mit dem Kind los, welche Botschaft sendet das Kind mit seinem Verhalten?«
Dazu ein kleines Beispiel aus meiner Beratungspraxis: Ein dreijähriges Kind wird von seiner Mutter zum Essen gerufen und verweigert dies. Auf Nachfrage erklärt es, dass es lieber spielen als essen wolle. Die Mutter mutmaßt, dass das Kind hier sein emotionales Bedürfnis formuliert. Das ist aber nicht der Fall: Spielen ist lediglich das Anliegen. Das Kind bringt allerdings über sein Anliegen ein wichtiges Grundbedürfnis zum Ausdruck, nämlich das nach Autonomie und Selbstwirksamkeit. Es will selbst (mit)entscheiden.
Es geht also darum, das kindliche Verhalten als ein wertvolles Signal auf innerseelische Prozesse und emotionale Grundbedürfnisse zu verstehen. In diesem Sinn können ganz neue Antworten von Erwachsenen auf der emotionalen Ebene folgen. Das kostet nicht mehr Zeit! Der Kontakt zum Kind findet lediglich auf einer anderen Ebene statt.
Die Ausführungen in diesem Buch über emotionale Grundbedürfnisse – insbesondere über Verbundenheits- und Autonomiestreben – sind auch heute noch aktuell und nach wie vor dazu geeignet, ein solches Verständnis und darauf aufbauend neue Reaktions- und Handlungsweisen zu entwickeln. Darin liegt ein dritter und ganz entscheidender Grund, weswegen ich Ihnen, liebe Leserin und lieber Leser, dieses Buch weiter zur Verfügung stellen möchte. Dabei denke ich nicht nur an Eltern, sondern auch an Erzieher und Lehrerinnen, denn in Kita und Schule wird, besonders in Konfliktsituationen, nach wie vor bevormundet und sanktioniert. Da wird ein Kind schnell von der Gruppe ausgeschlossen und muss sich auf ein »Strafbänkchen« setzen, und »blaue Briefe« an die Eltern sind oft die Ultima Ratio von Lehrern und Lehrerinnen. Die hinter einem Konflikt oder hinter (oft nur vermeintlich) auffälligem Verhalten liegenden (Grund-)Bedürfnisse werden nicht in den Blick genommen. Dabei wäre ein Wandel von der Erziehung zur Beziehung auch in den staatlichen Institutionen konstruktiv und zielführend und für alle Beteiligten entlastend.
Ein wesentliches Anliegen von mir war und ist, dass wir Kindern eine kindgerechte Entwicklung zugestehen, dabei Rücksicht auf ihre Bedürfnisse, Gefühle und ihre Würde nehmen und sie auf diesem Wege wertschätzend begleiten. Dass wir sie nicht nach unseren Vorstellungen formen (also erziehen), sondern ihnen eine tragfähige Beziehung und eine sichere Bindung bieten und dabei ihre Individualität, ihren Entwicklungsstand und den jeweiligen Kontext einbeziehen. Das ist es, was Kinder brauchen. Auf diese Weise stärkrn wir sie und vermitteln ihnen das Gefühl, angenommen und geliebt zu sein, und sagen ihnen: »Du bist o. k., so wie du bist!«
In diesem Sinne lade ich Sie auch 2020 nochmals und erneut dazu ein, die Idee des klassischen Erziehens hinter sich zu lassen und im Umgang mit Ihren Kindern vor allem auf die Qualität des Miteinanders zu schauen. So können Sie neue Wege für sich und Ihre Familie gehen.
Viel Freude dabei!
Ihre und eure
Katia Saalfrank