Die ENTSCHEIDUNG meiner älteren TOCHTER
Am nächsten Morgen bin ich heimgefahren, mit der Bahn. Meine jüngere Tochter, die ich vor fünf Wochen zu meiner Mutter in Obhut hatte geben müssen, hatte ich während der Zeit in der Klinik nicht anrufen können. Sie war ja erst sieben und ein Handy gab es noch nicht, damals im Osten. Ich erkannte mein Kind kaum wieder. Total verdreckt war sie. Zuerst trat und schlug sie nach mir: „Geh weg! Ich will dich nicht wiedersehen! Ihr habt mich hier vergessen! Der Papa, du und die M, ihr seid in Urlaub gefahren. Ihr wollt mich nicht mehr haben! Du hast mich hier vergessen und holst mich nie wieder ab!“ Ich sagte: „Hat dir die Oma nicht erklärt, wo wir sind?“
Mein Kind: „Nö! Ihr seid im Urlaub und habt mich hier vergessen! Ihr wollt mich nicht mehr!“ Ich: „Komm, wir gehen erst mal zu uns nach Hause.“ Ich hatte in der Klinik Bescheid gegeben, dass ich für zwei Tage nach Hause fahren würde. Sie sollten mir Bescheid geben, falls es zu Ende ginge mit meiner älteren Tochter. Aber doch bitte alle Gerätschaften nicht abschalten. Kaum war ich eine Stunde zu Hause, da haben sie mich schon angerufen. Es sei jetzt soweit. „So“, sagte ich zu meiner jüngeren Tochter, „zur Oma kannst du nicht mehr. Wohin willst du denn?“ „Zur Patentante!“ „Gut, dann fragen wir die mal.“ Sie: „Aber du kommst doch wieder, oder? Du holst mich doch wieder ab, Mama? Du vergisst mich doch nicht? Wo ist denn die M?“ Ich: „Deine Schwester muss jetzt ganz viel schlafen. Und ich muss ihr helfen, damit sie wieder gesund wird.“ Sie: „Das glaube ich dir nicht!“ Ich: „Weißt du was? Dann nehme ich dich mit, damit du siehst, was mit ihr ist. Damit du mir auch glaubst.“ Sie: „Ja, ich komme mit.“ So sind wir also zu zweit mit der Bahn ins 200 km entfernte Klinikum gefahren. Mittags kamen wir an. Die Schwestern sagten gleich: „Mit dem Kind können Sie aber nicht in die Intensivstation. Sie wissen doch, was passieren kann.“ Meine Antwort: „Was soll denn hier noch passieren?“ Die beiden: „Da müssen wir erst den Oberarzt holen!“ Ich: „Sie gehen jetzt da von der Tür weg und ich gehe mit meiner Tochter hinein. Und ich will von Ihnen niemanden sehen da drin. Selbst hier im Krankenhaus haben wir ein Recht auf Privatsphäre!“ Dann sind wir beide, meine kleine Tochter und ich rein, in das Zimmer zu meiner älteren Tochter. Sie war wirklich weit weg. Sehr weit weg. Diesen Anblick werden ich nie vergessen. Ich schaute meiner älteren Tochter ins Gesicht. Wie eine Wachspuppe lag sie da. Die jüngere stand unten am Fußende und hatte die Hände auf dem Rücken verschränkt, wie ein alter Schullehrer. Ich ging zu ihr hin. Für einen Moment standen wir beide am Fußende nebeneinander. Dann ging sie einmal um das Bett herum, in dieser Haltung. Sie schaute genau hin. Oben am Kopfende blieb sie stehen und schaute ihrer Schwester ins Gesicht. Sie sprach: „Mama, du musst jetzt mal raus. Ich muss mit der M was besprechen.“ In dieser Haltung sagte sie das. Ich dachte: „Gut.“ Und sage zu ihr: „Aber du fasst hier nichts an, keine Kabel, keine Knöpfe. Auch wenn es piept, du darfst nichts anfassen. Auch wenn das Licht angeht nicht.“ Sie: „Mutti, du musst jetzt mal raus gehen. Ich muss mit der M was besprechen!“ Ich ging also raus. Vor der Tür stand schon das ganze Geschwader. Der Oberarzt war mittlerweile auch eingetroffen. Er: „Das können Sie doch nicht machen, einfach da reingehen!“ Ich: „Wenn Sie mich unterstützen wollen, holen Sie mir einen Kaffee und einen Stuhl, ich setze mich jetzt hier hin und warte.“ Für mich war ganz klar, die Kinder brauchen Zeit, allein ganz für sich. Keiner darf stören, und den Raum für eine Weile betreten. Eine der Schwestern: „Wenn was passiert!?“ Ich: „Was soll denn noch passieren? Was soll denn jetzt noch passieren?“ Und dann saß ich wie eine Matrona vor der Tür. Für mein Empfinden hat es ewig gedauert. Eine Schwester hat sich erbarmt und mir einen Kaffee geholt. Einen Kaffee und ein Wasser. Und wir haben gemeinsam gewartet. Ich hatte das Gefühl, eine Ewigkeit vor der Tür zu sitzen. Ich wusste nur eines: „Die dürfen da jetzt nicht rein!“ Am Ende waren es vielleicht zehn Minuten. Die Tür ging auf. Meine jüngere Tochter kam heraus und sagte: „Alles in Ordnung. Du brauchst dir keine Sorgen machen! Ich habe mit ihr alles besprochen. Sie wacht bald auf. Du wirst sehen. Wir beide gehen jetzt in die Stadt, du kannst mir was kaufen.“ Ich: „Machen wir und wir fahren Straßenbahn.“ Vorher bin ich nochmal kurz rein ins Zimmer zu meiner älteren Tochter und habe sie mir angeschaut. Sie war vom Wesen her völlig verändert. Ein Lächeln lag auf dem Gesicht, als wenn sie tief und zufrieden schliefe. Ich dachte, dass sie jeden Moment aufwachen und sogar aufstehen würde. Ich lächelte sie an: „Schön, prima.“ Die Schwester neben mir sagte: „Wir können jetzt auch nichts mehr machen. Nur abwarten. In dieser Nacht wird es sich entscheiden.“ Ich gab ihr Bescheid: „Wir gehen in die Stadt und kommen auf dem Rückweg noch mal vorbei und schauen nach ihr.“ Sie: „Ja, gut, wenn was ist, rufen wir Sie an!“ Ich: „Was soll denn sein?!“ Ich bin also mit meiner jüngeren Tochter in die Stadt und wir sind mit der Straßenbahn gefahren. Und als wir wieder auf dem Weg zur Klinik waren, sagte sie: „Brauchst jetzt gar nicht gucken, sie schläft jetzt. Morgen wacht sie wieder auf. Du wirst sehen. Sie wacht wieder auf!“ Ich: „Ja, wir gucken nur mal ganz leise rein.“ Die Schwester wieder: „Wenn