Plötzlich Rassist. Benjamin von Thaysens. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Benjamin von Thaysens
Издательство: Readbox publishing GmbH
Серия:
Жанр произведения: Биографии и Мемуары
Год издания: 0
isbn: 9783347049284
Скачать книгу
gute Managerentscheidung.

      Ich startete durch und arbeitete oft doppelt so viel wie meine Kollegen. Nicht weil ich es musste, sondern weil es mir Spaß machte. Ich war schier grenzenlos motiviert, hatte Kraft wie ein Gewichtheber und Ausdauer wie ein Triathlet. Wenn Arbeitskollegen nach Hause gingen, arbeitete ich weiter, manchmal die ganze Nacht, analysierte Daten und Fakten und traf darauf basierend präzise Entscheidungen.

      Ich absolvierte nebenbei drei Jahre lang eine fachspezifische Weiterbildung zum Logistiker. Direkt im Anschluss, wieder nebenbei, absolvierte ich ein Studium und war fortan Diplomökonom, ein Akademiker. Ich bekomme heute noch Gänsehaut vor Stolz, wenn ich daran denke, wie ich die Diplomurkunde das erste Mal in Händen hielt.

      Aber ich wollte noch mehr. Immer hatte ich Karl Siebrecht vor Augen, diesen Wirtschaftsakteur und sprachlichen Feingeist. Ich recherchierte wochenlang, bis ich das richtige für mich fand: ein Sozialkompetenz- und Kommunikationsstudium an einer Fachhochschule. Das war es, was ich suchte, um meine Sprache und mein Verständnis für Menschen weiter zu perfektionieren. Ich meldete mich an, nahm neben dem Selbststudium die Seminare wahr, die einmal im Monat stattfanden, und schloss das Studium nach drei Semestern erfolgreich ab.

      Ich war jetzt für alle Aufgaben gewappnet: Aus dem Industriekaufmann wurde ein Logistiker und aus dem Logistiker schließlich ein Ökonom und Kostenexperte, wie diejenigen bezeichnet werden, die in Unternehmen einen besonderen Fokus auf Kostenreduzierung legen. Ich wurde eine Kapazität auf meinem Gebiet, ein Manager, der scheinbar aussichtslose Geschäftsbereiche zum Florieren brachte. Ich stieg vom Projektassistenten zum Seniorberater auf und stemmte schließlich erfolgreich Großprojekte.

      Dann folgte der nächste große Schritt in meiner Karriere: Ich bekam einen Anruf von einem Headhunter, der mich im Auftrag eines Unternehmens aus Niedersachsen anwerben wollte. Ich war stolz, meine Leistungen hatten sich herumgesprochen.

      Schon eine Woche später saß ich im Zug auf dem Weg zu der Firma, für die mich der Headhunter aufgespürt hatte. Diese Reise entwickelte sich für mich wie eine spannende Expedition ins Paradies: Ich lernte Karsten Otterpohl kennen, eine Begegnung wie ein Lottogewinn – beruflich und intellektuell. Carsten Otterpohl war der Geschäftsführer eines großen mittelständischen Dienstleistungsunternehmens mit 5.000 Beschäftigten. Er zeigte mir in unserem Gespräch eine schlüssige Perspektive auf. Ich überlegte ein paar Tage und nahm sein Angebot dann an. Drei Monate später zog ich von Bayern nach Niedersachsen.

      In einer Art Traineeprogramm leitete ich zunächst in einer Stabsfunktion von Carsten Otterpohl das Projektmanagement: eine Aufgabe, die im Kern das Ziel verfolgte, Kostenfaktoren zu ermitteln und zu eliminieren; meine Lieblingsdisziplin. Dieses Gebiet beherrschte ich aus dem Effeff. Ich war nicht nur zielorientiert, ehrgeizig und wissbegierig, sondern auch mutig; kein Projekt schien mir zu groß. Ich arbeitete manchmal drei Tage durch, bis ich die beste Lösung für Carsten Otterpohl parat hatte.

      Ich absolvierte während dieser Zeit Führungsseminare auf Kosten des Unternehmens und wurde so vom Rohdiamanten zum Edelstein geschliffen, wie Carsten Otterpohl später meinte.

      Nach zwei Jahren erhielt ich eine Beförderung und übernahm eine Position als Bereichsleiter. Ich erinnere mich noch genau an diesen Tag: Ich bezog ein riesiges und komfortabel ausgestattetes Büro auf der sogenannten Teppichetage im obersten Stockwerk, da, wo jeder Karrierist landen möchte; mit einem atemberaubenden Ausblick über die ganze Stadt. Mein erster Firmenwagen glänzte vor dem Haupteingang wie ein frisch polierter Kristall, mein Girokonto füllte sich kräftig. Selbstverständlich erhielt ich eine Assistentin – meine erste persönliche Assistentin! Wow, dachte ich! War ich jetzt am Ziel meiner Träume angelangt?

      Carsten Otterpohl verließ drei Jahre später das Unternehmen und wurde CEO in einer Kölner Aktiengesellschaft mit Tochterunternehmen in ganz Deutschland. Ein Jahr später folgte ich ihm. Ich hätte das nicht gemusst, bei mir meldeten sich nämlich oft Headhunter, um mich für andere Unternehmen abzuwerben. Manchmal testete ich meinen Marktwert, indem ich Gespräche mit anderen Unternehmen führte. Ich hätte tatsächlich woanders viel mehr Geld verdienen können als bei Carsten Otterpohl. Es gab aber etwas anderes als Geld, was mich an der Zusammenarbeit mit ihm faszinierte: seine totale Erfolgsorientierung verbunden mit seiner menschlichen, authentischen und ehrlichen Art. Wäre das Unternehmen in Flammen aufgegangen, hätte er jeden einzelnen Mitarbeiter persönlich gerettet. In hitzigen Situationen bewahrte er immer die Ruhe und das strahlte auf das ganze Umfeld aus. Kein Mitarbeiter empfand Druck bei ihm, obwohl er geschäftliche Vorgänge extrem beschleunigte und gehörig aufs Tempo drückte. Er ließ seinen Führungskräften Freiraum für die Umsetzung von Ideen und forderte Kreativität ein. Mangelte es an Kreativität, reizte er sie geschickt an. Er sprach nie über Kollegen und Mitarbeiter, die nicht im Raum waren. Er redete mit den Menschen. Man hörte ihn nie klagen oder sich beschweren. Jeder Mitarbeiter wurde von ihm gleich wertgeschätzt, egal ob Arbeiter an der Maschine oder Bereichsleiter im Maßanzug – er machte keine Unterschiede. Carsten Otterpohl hatte ein Gespür für gute Geschäfte. Er war ausgeglichen und ruhte in sich. Diese Aspekte waren es, die herausragende Ergebnisse produzierten. Ich war nie ein Schleimer, ich biederte mich bei niemandem an, auch nicht bei ihm. Wir waren manchmal unterschiedlicher Auffassung, das durfte man bei ihm sein, er forderte geradezu andere Meinungen und Standpunkte von seinen Führungskräften ein. Ich hatte trotzdem nie das Gefühl, mit ihm zu streiten. Sachliche Diskussionen, harte Fakten und stichhaltige Argumente prägten unseren Diskurs. Diesen Stil mochte ich. So war ich auch – und ganz sicher auch Karl Siebrecht.

      Jetzt war ich also wieder bei Carsten Otterpohl und leitete einen Betrieb in Rheinland-Pfalz. Selbstverständlich bekam ich einen größeren Firmenwagen, mehr Gehalt und einen riesigen Kompetenzspielraum, ich war ja jetzt ein Firmenlenker. Ich hatte meine Ziele erreicht und dank meiner Mobilität viele Teile Deutschlands gesehen. Ich kam aus einem kleinen Dorf in Westfalen, zog nach Bayern, weiter nach Niedersachsen und von dort nach Rheinland-Pfalz innerhalb von nur wenigen Jahren.

      ***

      Zwischenzeitlich hatte ich Carola kennengelernt. Sie hatte wie ich das Sozialkompetenz- und Kommunikationsstudium absolviert; wir waren im selben Seminar. Carola ist Berlinerin, aber ohne die berüchtigte freche Schnauze, sie ist eher eine leise Person. – Im Gegensatz zu mir, ich bin mehr der extrovertierte Typ.

      Ich erinnere mich noch genau an unser erstes gemeinsames Studienwochenende: Sie saß mir gegenüber, trug ein dunkelblaues langärmliges Sweatshirt, Bluejeans, Sneaker und hatte einen niedlichen Kurzhaarschnitt. Ich mochte sie sofort, ohne sie zu kennen.

      Schnell bildete sich unter den Kommilitonen eine Fünfergruppe heraus. Wir verabredeten uns, welches Hotel wir buchten, und trafen uns freitagabends. Carola gehörte dazu. Alle anderen Studierenden reisten samstags morgens direkt vor den Seminaren an. Ich freute mich vorher tagelang auf diese Treffen. Besonders weil Carola dabei war. Wir unterhielten uns an diesen beschwingten Freitagabenden über Sport, Mode, Kunst, Musik … über alles Mögliche, nur nicht über unsere Arbeit. Nicht über die Arbeit zu reden war für mich neu, jedoch überraschend erholsam. Wir aßen gemeinsam zu Abend, tranken zur Verdauung einen Ramazotti, danach Bier, Wasser, Apfelschorle … Carola trank Rotwein, meistens einen tiefroten Merlot. Die Abende verliefen kurzweilig, oft bis weit nach Mitternacht.

      Am nächsten Abend, nach den Seminaren, ging der gesamte Kurs mit den Professoren zum Essen. Carola war immer an meiner Seite. Ich achtete darauf, sie in meiner Nähe zu haben, möglichst viel Zeit mit ihr zu verbringen. Wir unterhielten uns pausenlos, fanden immer interessante Themen, tauschten Standpunkte aus, scherzten miteinander, foppten uns und lachten viel. Wir hatten einen tollen Draht zueinander, so unterschiedlich wir auch waren.

      Wir gingen indes kein Verhältnis ein. Es lief nichts zwischen uns. Nicht mal ein Kuss. Als das Studium endete, tauschten Carola und ich unsere Handynummern aus und schrieben uns von Zeit zu Zeit eine SMS. Nicht oft, vielleicht einmal im Vierteljahr. Wir versicherten uns nur, dass es uns gut ginge. Wir wohnten weit auseinander: sie in Berlin, ich in Bayern.

      Das änderte sich, als Carola mich eines Abends anrief. Sie war verzweifelt, weinte und schluchzte wie ein kleines Mädchen, das bei Ikea seine Mutter verloren hatte. Wahnsinn, dachte ich; so kannte ich sie nicht. Trotz ihrer Verzweiflung war sie noch