Helena schenkt der Stimme Glauben und schickt einen kräftigen, gedanklichen Stoß in ihre Beine. Die Augen behält sie vorsichtshalber geschlossen, denn sie hat einmal gehört, dass äußere Reize die Konzentration maßgeblich beeinflussen können.
„Und?“
Das ist das erste Mal, dass sie tatsächlich Hoffnung verspürt. „Bewegt sich etwas?“
Es bleibt still im Raum.
„Oh, ich verstehe.“
Ihre Stimme ist mehr ein Hauchen. „Das ist schon Antwort genug. Danke für eure Hilfe, Jungs.“
Jemand räuspert sich.
„Dir danke ich natürlich auch, Sabrina.“
Als sie die Augen öffnet, stehen Oliver, Julius und Sabrina in Reih und Glied nebeneinander, wie drei Orgelpfeifen. Ihre Blicke sagen alles; sie leiden mindestens genauso sehr wie Helena selbst.
„Komm schon, lass es und noch einmal versuchen. Vielleicht klappt es jetzt.“
Oliver greift nach ihrem Arm und versucht, sie zum Aufstehen zu animieren, doch Helena wehrt seine Hilfe entschlossen ab.
„Bitte lasst mich einfach in Ruhe. Das bringt doch alles nichts. Ihr wisst genauso gut wie ich, dass es auch dieses Mal nicht funktionieren wird und ich danach nur noch deprimierter bin.“
Betretenes Schweigen bestätigt ihre Aussage. Nach außen hin erscheint Helena resigniert, mit einem Touch von Stärke und Kontrolle, als habe sie sich mit der Situation abgefunden, doch innerlich tobt in ihr ein Sturm der Gefühle; ein Feuerwerk, das in alle Körperregionen sprüht und sie zum Explodieren bringen will.
„Das wird schon wieder.“
Helena zuckt erschrocken zusammen, als Oliver ihre Hand berührt. Sie hat gar nicht bemerkt, dass er sich neben sie auf die Bettkante gesetzt hat. Sie schaut an ihren Beinen hinunter, die neben seinen vom Bett hängen, als wären es zwei mit Wasser gefüllte Gummischläuche in Jeans.
„Was, wenn ich nie wieder laufen kann?“
„Das glaube ich nicht“, antwortet Sabrina und fährt ihr sanft über den Kopf. Sie ist mit achtundzwanzig Jahren zwar noch deutlich zu jung, um Kinder in Helenas Alter zu haben, doch da sie die Älteste hier im Raum ist, hat sie automatisch die Mutterrolle übernommen, und erledigt ihren Job ziemlich gut; auch wenn ihr das zu Beginn niemand zugetraut hätte. „Sicherlich hast du dir nur einen Nerv eingeklemmt. Das legt sich mit der Zeit von selbst wieder, glaub mir.“
Das waren genau die Worte, die Helena in diesem Moment gebraucht hat. Sie würde ihr so gerne glauben, aber das beruhigende Gefühl hält nicht lange an.
„Bis wohin spürst du denn nichts?“, erkundigt sich Julius und setzt den wissenschaftlichsten, analysierendsten Blick auf, den er zu bieten hat. Helena schaut an sich hinunter und deutet mit der flachen Hand eine Linie ungefähr auf der Höhe ihres Bauchnabels an.
„Ab da geht es. Untendrunter ist alles taub.“
Julius nickt. Er knetet seine Lippe, als ginge er im Kopf das medizinische Klassifikationssystem für sekundäre körperliche Behinderungen durch.
„Das spricht alles für eine Querschnittlähmung.“
„Julius!“
Oliver springt vom Bett auf, als habe jemand ein Feuer unter seinem Hintern gezündet. „Es reicht jetzt! Du bist weder Arzt noch Physiotherapeut oder sonst ein Experte, der sich das Recht herausnehmen kann, hier und jetzt irgendwelche Diagnosen zu stellen!“
Julius weicht alarmiert zurück und hebt abwehrend die Hände.
„Mein Vater ist Arzt.“
„Dein Vater ist ZAHN-Arzt!“
Er zuckt mit den Schultern und macht ein gleichgültiges Gesicht.
„Trotzdem kennt er sich mit Taubheit aus.“
„Mit Zahn-Taubheit vielleicht!“
Oliver stampft fest auf dem Boden auf, wedelt mit den Armen durch die Luft und wendet sich dann erbost von Julius ab. „Zumindest hoffe ich das für ihn und seine Patienten.“
„Oliver“, nun ist es Sabrina, die das Reden übernimmt. „Der Junge ist erst neunzehn. Er weiß es nicht besser.“
„Erst neunzehn?!“, fährt Oliver Sabrina an, entschuldigt sich aber sofort für seinen Tonfall. „Der Junge darf wählen, Autofahren, und in der Schule seine eigenen Fehlzettel unterschreiben! Er spielt Golf, Polo und fliegt im Flugzeug erste Klasse.“
„Cockpit“, bringt Julius vorsichtig an. „Mein Onkel ist Pilot.“
Bevor Oliver darauf eingehen kann, übernimmt Sabrina das Wort und stellt sich geschickt zwischen die beiden Streithähne; wohl wissend, dass es sonst vermutlich bald zu Handgreiflichkeiten gekommen wäre.
„Julius wollte sicher nur helfen, nicht wahr?“
Der Junge nickt zustimmend und bringt sich unauffällig in Sabrinas Schatten in Sicherheit.
„Helfen…“, Oliver schüttelt ungläubig den Kopf. „Dann denk beim nächsten Mal gefälligst nach, bevor du helfen willst, und verunsichere sie nicht noch mehr, als sie es sowieso schon ist.“
Helena mischt sich nicht in die Diskussion ein, doch sie ist dankbar über Olivers Worte, über Sabrinas Schlichtungstalent und sogar ein bisschen über Julius‘ guten Willen zum Helfen. Tief in ihrem Inneren hat sie es tatsächlich schon geahnt, doch irgendeine Mauer hat es seit dem schrecklichen Sturz vor ihr abgeschirmt.
Jetzt, da Julius es laut ausgesprochen hat, hängt das Wort im Raum, wie ein unsichtbarer Vorhang, der Helena von allen Seiten umhüllt.
Querschnittlähmung.
Montag, 01.07.2019, 08: 50 Uhr
- Mara -
„In zehn Minuten ist es soweit.“
Simone Hirsch fegt über den Rasenplatz und verteilt genauso viel Aufregung wie Anweisungen. Es ist ihr erstes Jahr als Leiterin der Kinderfreizeit, die sie bisher immer nur hinter den Kulissen mit organisiert hat. „Wo ist Michael?“
Ich deute mit ausgestrecktem Arm in Richtung Wasser, wo ihr Ehemann gerade den Steg absperrt.
„Nicht, dass direkt am Anfang schon ein Kind baden geht“, hat er mir erst vor zwei Minuten erklärt, als ich ihm das dicke Schiffstau gebracht habe.
„Danke Mara!“, ruft mir Simone zu, während sie an mir vorbei auf ihren Ehemann zu sprintet. Mitten im Laufen bleibt sie plötzlich stehen und dreht sich noch einmal zu mir herum. „Was ist eigentlich mit der Biertischgarnitur?“
Ich lehne mich zurück und luge um die Ecke.
„Die Bänke stehen schon, die Tische werden gerade aufgebaut.“
Sie schenkt mir einen Daumen nach oben, während sie schon wieder in Bewegung ist. Ich widme mich währenddessen weiter den bunten Wimpeln, die ich an Holzpfählen befestige und einmal quer über den Grillplatz spanne. Leonie hält das andere Ende der Leine in den Händen und verzweifelt ebenso wie ich an den vielen Knoten im Seil. Aufgrund mangelnder Zeit bis die Kinder kommen, beschließen wir kurzerhand, das Problem Problem sein zu lassen, und die Wimpelkette so aufzuhängen, wie sie im Moment ist.
„Sieht doch gut aus“, stelle ich zufrieden fest, während ich unser Werk aus der Ferne betrachte. „Die Knoten fallen doch kaum auf.“
„Wenn man nicht weiß, dass alle Wimpel mit der Spitze nach unten hängen sollten.“
Leonie stemmt die Hände in die Hüften und wiegt den Kopf unentschlossen hin und her. „Dann kaum.“
Ich gebe ihr ein High Five und wir machen uns zusammen auf den Weg in Richtung Vereinshaus. Die Hütte ist zwar etwas