***
Florians Unbekümmertheit täuschte. Hinter seinem durch nichts zu bremsenden Optimismus und seinem extrovertierten Äußeren verbarg sich ein äußerst mitfühlender Mensch, der tief in die Seelen seiner Gegenüber blicken konnte. Und der wusste, wie hart das Schicksal zuschlagen konnte.
Er war schlichtweg auf einen Betrüger hereingefallen. Er hatte Kurt im Englischen Garten kennengelernt. Für ihn war es Liebe auf den ersten Blick, während für Kurt wohl auf dem ersten Blick klar gewesen war, dass er jemanden vor sich hatte, dessen Gutmütigkeit er restlos ausnutzen konnte. Nach vier Wochen Liebestaumel, inklusive einer Reise auf die Malediven, die sich Florian eigentlich gar nicht hatte leisten können, aber doch gebucht hatte, da Kurt so davon schwärmte, war sein Konto leer und seine sämtlichen Ersparnisse geplündert. Auch mit der Miete war er in Rückstand, was kein großes Problem geworden wäre, wenn Kurt ihm das Geld, das sich der Kerl „kurzfristig“ geliehen hatte, zurückgezahlt hätte. Doch Kurt war fort, ohne ein Wort, ohne eine Notiz zu hinterlassen. Es brach Florian das Herz. Gleichzeitig zu der Erkenntnis, dass sein Vertrauen restlos missbraucht worden war und seine Finanzen böse in den roten Zahlen lagen, flatterte das Kündigungsschreiben für seine Wohnung per Einschreiben ins Haus.
Doch es kam noch schlimmer. Noch während Florian überlegte, ob er um einen Gehaltsvorschuss für seine Arbeit als Maskenbildner bitten konnte, wurde ihm im Theater mitgeteilt, dass die dortigen erforderlichen Sparmaßnahmen leider, leider eine betriebsbedingte Kündigung für ihn beinhalteten.
Florian fehlte die Kraft, dagegen zu klagen. Er hatte auch keine Chance, die Wohnung zu behalten. Wie auch ohne Rücklagen und ohne Job? Er musste zähneknirschend seine Eltern bitten, ihm aus der finanziellen Klemme zu helfen, damit er durch die Mietschulden nicht auch noch in ein Insolvenzverfahren rutschte. Die Eltern sprangen finanziell ein, verdonnerten ihn aber gleichzeitig, in ihr leerstehendes Haus in Wasserburg einzuziehen, bis sie sich entschließen sollten, ihre zweite Heimat auf Mallorca wieder aufzugeben und in die bayerische Heimat zurückzukehren.
Also brach er verzweifelt seine Brücken in München ab, packte seine spärlichen Habseligkeiten in den VW-Käfer und zog zurück in seine alte Heimatstadt.
Es sollte ursprünglich nur ein Zwischenaufenthalt werden, bis er wieder finanziell auf eigenen Beinen stand, denn seine Kindheit in Wasserburg betrachtete er mit gemischten Gefühlen. Die Pausen auf dem Schulhof waren ihm damals ein Gräuel gewesen, bis Karin auf ihn aufmerksam geworden war und ihn unter ihre Fittiche genommen hatte. Sie wurde zu seiner Herzensfreundin und Tante Hildegard zu einer verschwiegenen Verbündeten, die beide Kinder an Kleiderschränke und Schminkutensilien ließ, ohne ein weiteres Wort darüber zu verlieren.
Nach seiner Rückkehr nach Wasserburg stellte er jedoch voller Erstaunen fest, dass er als schräger Vogel, der er nun einmal war, nicht ausgegrenzt wurde. Künstlerische Begabungen wurden in der Kleinstadt hochgehalten. Und so wurde er als ausgebildeter Maskenbildner direkt gefragt, ob er beim großen Bürgerspiel seine Passion einsetzen konnte. Er verdiente zwar nichts dabei, traf aber mit seiner offenen und positiven Art sofort die Herzen der Wasserburger, die sich vertrauensvoll von ihm schminken ließen. Er hatte seinen Platz gefunden. Während er sich mit unregelmäßigen Jobs finanziell über Wasser halten musste, heilte langsam seine Seele.
Florian genügte daher nur ein kurzer Seitenblick, um zu sehen, dass Karin völlig am Ende ihrer Kräfte war, so wie sie zusammengesunken im Autositz hing. Warum musste sie das auch allein durchstehen, warum war ihr Highlander nicht bei ihr? „Kommt Andrew nach?“, fragte er vorsichtig.
„Nein!“ Ihre Blicke trafen sich kurz. „Andrew ist weg. Für immer. Habe ihn mit einer anderen im Bett erwischt, kurz bevor dein Anruf kam.“
„Aua!“
Dann schwieg er. Was gab es dazu auch noch zu sagen? Jedes weitere Wort wäre nur zu einer Phrase verkommen.
„Genau. Mist! Schlimmer geht’s jetzt nicht mehr, oder?“, sie weinte nun hemmungslos, „mein ganzes Leben ist am Ende. Andrew hat mich betrogen und meine Tante, die mir im Leben am nächsten stand, ist tot. Was soll ich denn jetzt nur machen?“
Was hätte ihre Tante jetzt zu ihr gesagt, wenn sie noch leben würde? Es war, als wäre ihre Stimme direkt in ihrem Kopf: „Ach Mäuschen, es gibt keine Altersbegrenzung, um nicht nochmal neu anzufangen. Und du bist noch so jung. Also ran an die Fleischpflanzerl, Bulletten gibt’s nur in Berlin.“
***
Frau Zwiebel parkte ihren Wagen vor ihrem Einfamilienhaus in der St.-Benedikt-Straße ein und blieb noch eine Weile im Auto sitzen. Sie brauchte ein paar Minuten, um sich zu rüsten. Um die Tür zu öffnen, ihre Schuhe abzustreifen und diese in Reih und Glied zu den anderen zu stellen. Das quengelnde und beleidigte „Getrud, bist du’s?“ zu hören, in die Küche zu gehen und auf das Chaos zu starren, das ihr Gatte angerichtet hatte.
Sie atmete tief durch, öffnete die Autotür und stieg aus. Während sie den BMW verriegelte, beschloss sie, zuerst den schwarzen Kater ihrer verstorbenen Nachbarin zu füttern. Frau Zwiebel überquerte die Straße und öffnete das kleine Gartentor, dann umrundete sie das Haus auf dem kleinen Gartenstück.
Verfolgt wurde sie von zwei Augenpaaren aus den Nachbarhäusern. Herr Lohmeier, der ihre Ankunftszeit in sein schwarzes kleines Notizbuch schrieb und Sebastian Salzinger, der neue Nachbar, der sich soeben auf seiner Terrasse niederlassen wollte. Vorsichtig trat er zurück, er wollte nicht in ein Gespräch verwickelt werden.
Sebastian Salzinger wäre ein Haus, welches irgendwo abgeschieden steht, lieber gewesen, hatte sich dann jedoch umentschieden, nachdem der Makler ihm dieses Mietobjekt gezeigt hatte. Ein paar Details, die für andere Mieter nicht von Bedeutung gewesen wären, gaben den Ausschlag.
Die Einrichtung war, bis auf einen Raum im Keller, mehr als spartanisch. Auch das war so gewollt. Seit einigen Jahren lebte er so, dass er zu jeder Tages- und Nachtzeit eine bereits gepackte Reisetasche nehmen und schnell und heimlich verschwinden konnte. Trotz seiner muskulösen Gestalt bewegte er sich leise wie ein Panther.
Frau Zwiebel‚ die im Nachbargarten scheppernd den Wassernapf neu füllte, war mit ihren eigenen Gedanken beschäftigt. Mit ihrem Widerwillen, zu ihrem Ehegatten und den starren Tagesabläufen zurückzukehren. Seufzend verließ sie das Grundstück, lief über die Straße und betrat ihr eigenes Anwesen. Öffnete die Haustür. „Gertrud, bist du’s?“, rief es mürrisch aus dem Wohnzimmer. Sie ersparte sich eine Antwort und öffnete die Küchentür. Schmutziges Geschirr stapelte sich neben aufgerissenen Verpackungen. Dieters Protest, ihn für einen Tag allein gelassen zu haben. Er hatte nicht sie, Getrud, vermisst, sondern die Hausfrau, seine persönliche Dienstmagd. ‚Wann nur ist unsere Beziehung in völlige Lieblosigkeit umgeschlagen?‘, dachte sie wohl zum tausendsten Mal, während sie die weit verstreuten Reiskörner und Spirelli-Nudeln auflas. Als ob Dieter in der Lage wäre, Reis oder Nudeln zu kochen! Frau Zwiebel zwang sich zu einem Lächeln, als sie sich umwandte und das Wohnzimmer betrat. „Schöne Grüße von Laura“, sagte sie. Laura, ihre alte Jugendfreundin war ihr Alibi für die unbeschwerten Stunden. Ein unbestimmtes Grunzen kam aus dem großen Wohnzimmersessel. „Warum gehst du bei dem schönen Wetter nicht in den Garten?“ Frau Zwiebel erwartete keine Antwort, sie riss die Terrassentür auf, atmete tief durch, um das Gefühl, gleich zu ersticken, in den Griff zu bekommen. Zwang sich wieder zu einem neutralen Ton. „Ich habe dir deinen Schnupftabak mitgebracht.“ Dieter bestand auf seinen Spezialtabak aus dem Rauchwarengeschäft in der Münchner Theatinerstraße. Sie ließ ein kleines Päckchen auf den Wohnzimmertisch gleiten, dann trat sie auf die Terrasse hinaus und schnappte sich eine große Gießkanne. Das Blumenbeet im rückwärtigen Garten war voll mit Stiefmütterchen und Primeln. Völlig phantasielos, aber mit dem Lineal in gleichen Abständen gepflanzt. ‚Wieso konnte ich mich bei Schülern, deren Synapsen völlig außer Kontrolle waren, durchsetzen, aber in meiner Ehe nicht?‘Auch diese Frage kreiste in Getrud Zwiebels Kopf. Und ein neuer Gedanke war hinzugekommen, ‚wie schön wäre es, wenn Dieter einfach nicht mehr da wäre?!‘
4. Kapitel