Die Offenbarung des Johannes zu entdecken, ist nur möglich, wenn wir sie auch besser verstehen. Das Gebet um Gottes Hilfe durch seinen Heiligen Geist ist dazu grundlegend. Er, der Geist Gottes, wurde uns u. a. gegeben, um uns zu «lehren»: Joh 14,26. Je mehr ich in der Offenbarung gelehrt bin und dadurch auch mehr entdecke und verstehe, umso mehr Sinn macht sie. Die «aufgebrochenen Siegel» öffnen uns dann einen reichhaltigen seelsorgerlichen Schatz.
Aber wir dürfen sie nicht bloß irgendwie verstehen, sondern so, dass die in der Offenbarung kommunizierten Wahrheiten uns das vermitteln, was deren Urabsicht war – soweit wir den Inhalt jetzt schon verstehen können, denn das hat auch seine vorläufigen Grenzen.
Gott benutzt in der Offenbarung des Johannes oft eine prophetische Symbol- und Bildersprache. Um, wie vorhin erwähnt, die Urabsichten der Offenbarung so gut wie nur möglich zu verstehen, müssen wir diese Sprache so weit wie möglich entschlüsseln. Dabei fragen wir uns: Was wollte Gott den Menschen damals zur Zeit des Johannes sagen? Was den Menschen in den Jahrhunderten danach? Was uns, die wir heute in diesem letzten Buch der Bibel lesen?
Die Offenbarung des Johannes trägt im griechischen Neuen Testament die Bezeichnung «apokalypsis Joannu», übersetzt: «Die Enthüllung des Johannes». Hier in der Offenbarung des Johannes wird vieles über das Jenseitige und Zukünftige enthüllt – aber nicht alles! Es bleiben Fragen und Teile offen, die man erst «danach» verstehen wird. Dann, wenn die Zeit dazu reif ist, oder sich die Erfüllung ereignet oder ereignet hat.
Es wäre jedoch einseitig, wenn wir in allen Aussagen der Offenbarung des Johannes nur Bilder- und Symbolsprache vermuten. Es gibt darin auch viele Aussagen, deren Erfüllung real und gegenständlich zu verstehen ist. Zum Beispiel Aussagen über entfesselte Naturgewalten, die sich zukünftig in realen, gegenständlichen Naturkatastrophen manifestieren: Hagel wird gegenständlicher Hagel sein. Feuer wird brennendes Feuer sein. Bäume und Gras, welche verbrennen, werden reale, gegenständliche Bäume und gegenständliches Gras sein, welche verbrennen.
Ob nun Aussagen als prophetische Symbol- und Bildersprache oder reale gegenständliche Sprache zu verstehen sind, gehört zur Aufgabe der biblisch-exegetischen Feinarbeit. Es ist mein Ziel, dass die vorliegende Ausarbeitung das Ergebnis einer solchen Feinarbeit ist.
Was ist das Typische einer biblisch-exegetischen Feinarbeit (Exegese = griechisch, übersetzt = Auslegung, Erläuterung)? Um diese Frage zu beantworten, müssen wir zumindest in vereinfachter Form etwas in die Geschichte der Bibelauslegung eintauchen. In dieser Geschichte, insbesondere der prophetisch-apokalyptischen Bibeltexte, konkurrieren primär drei Auslegungsmethoden:
• die allegorische,
• die entmythologisierende,
• die grammatikalisch-historische (auch «wörtliche» genannt).
Einige Erklärungen zu diesen drei Auslegungsmethoden:
• Die «allegorische» Auslegungsmethode. (Allegoria = griechisch, übersetzt = «andere Sprache» oder «verschleierte Sprache».) Diese Auslegungsmethode versteht viele Aussagen der Bibel mehrheitlich als reine Symbole und Bilder. Sie vergeistigt die Aussagen großzügig, variantenreich und von daher, je nach Bibelausleger, sehr individuell. Diese Methode wurde schwerpunktmäßig durch Origenes (185–254 n. Chr.) und Augustinus (354–430 n. Chr.) entwickelt und eingeführt. Augustinus prägt die christliche Allegorese über das Mittelalter hinaus bis in unsere Zeit. Die Offenbarung des Johannes wurde besonders ein Opfer dieser Auslegungsmethode. Reale Aussagen bleiben kaum übrig. Der Auslegungswillkür wird Tür und Tor geöffnet. Der eigentliche Wahrheitsinhalt eines Bibeltextes spielt dadurch eine untergeordnete Rolle.
• Die «entmythologisierende» Auslegungsmethode geht davon aus, dass die Bibel mehrheitlich als Mythos oder in mythischer Sprache geschrieben wurde und von diesen Mythen befreit werden muss, damit nur noch ihre reale Wirklichkeit übrig bleibt. Christlicher Glaube könne sich nur aus einer existenzialen (entmythologisierten) Interpretation der Bibel ergeben. Diese Methode wurde insbesondere von Rudolf Bultmann in seinem Aufsatz «Neues Testament und Mythologie» aus dem Jahr 1941 entwickelt und eingeführt und dient bis heute als Grundlage der verschiedenen liberalen Ansätze in der Theologie. Gerhard Maier kommentiert entsprechend zu Offb 6,12: «An dieser Stelle zeigen sich die negativen Folgen der existenziellen Interpretation, die die sogenannte kosmologische Eschatologie preisgab. Für viele wegweisend, hielt Rudolf Bultmann die kosmologische Eschatologie für eine ‹unhaltbar gewordene mythologische Vorstellung›. In der Tat konnte sich Bultmann ein Weltende nur ‹als das Ergebnis der natürlichen Entwicklung› vorstellen. Damit war die Frage nach dem Weltende praktisch an die Naturwissenschaft abgegeben. Es war dann nur konsequent, wenn Wolfgang Trillhaas im Gefolge Bultmanns einen Abschnitt seiner ‹Dogmatik› 1962 mit ‹Die Ausscheidung der kosmologischen Eschatologie› überschrieb. Unmissverständlich hält er darin fest: ‹Dauer der Welt und künftiges Schicksal der Erde sind naturwissenschaftliche Fragen und als solche aus der Zuständigkeit der Theologie zu entlassen› … Wer die kosmologische Eschatologie preisgibt, entlässt in Wirklichkeit Gott aus dem Weltregiment» (Gerhard Maier, Die Offenbarung des Johannes zu Offb 6,12, S. 337).
• Die «grammatikalisch-historische» Auslegungsmethode fragt und forscht sorgfältig nach der Grammatik des einzelnen Bibelwortes, des einzelnen Satzes, Abschnittes und des ganzen Buches. Sie erforscht diese Textelemente auf ihre sprachlichen, etymologischen und inhaltlichen Aussagen zur Zeit ihrer Niederschrift und damit ihre historischen Aussagen. Anders gesagt: Die grammatikalisch-historische Auslegungsmethode will jenen Inhalt herausarbeiten, den der damalige Schreiber den damaligen Lesern vermitteln wollte und den die damaligen Zuhörer verstanden haben. Auf dem Boden dieser grammatikalisch-historischen Ergebnisse stehend, schaut diese Methode weit nach vorne in unsere Zeit hinein und versucht den Textinhalt von damals in unserer Zeit optimal zu verstehen und zu interpretieren – soweit dies möglich ist.
Welche Auslegungsmethode passt nun zu einer biblisch-exegetischen Feinarbeit, welche die Bibel und damit Gottes Wort als oberste Autorität versteht? Anders gefragt: Welche Auslegungsmethode ist am besten geeignet, damit in unserem vorliegenden Fall die Botschaft der Offenbarung des Johannes wahrheitsgetreu und verständlich den heutigen Leser und Zuhörer erreicht? Meine Antworten:
• Die allegorische Methode ist nicht aus dem gründlichen Studium der Bibeltexte an sich hervorgegangen, sondern vielmehr aus dem Bestreben, die damalige griechische Philosophie mit der Bibel zu verbinden. Und so versucht auch heute eine allegorische Auslegungsmethode dem Bibeltext menschlich-philosophische Gedanken zu überstülpen, um eventuell Anstößiges zu kaschieren.
• Die entmythologisierende Methode ist nicht aus einem lernbereiten und vor Gott demütigen Studium der Bibeltexte und deren Inhalt an sich hervorgegangen, sondern vielmehr aus der Überzeugung, wir heutigen Menschen müssten die Bibel nach unseren Vorstellungen entmythologisieren, um eventuell Anstößiges zu entfernen.
• Die grammatikalisch-historische Methode ist sehr darum bemüht, uns den Bibeltext in seinem ursprünglichen, allgemein gebräuchlichen, verständlichen und damit wörtlichen Sinn zugänglich zu machen. Diese Methode will nichts wegnehmen oder hineininterpretieren. Auch dann nicht, wenn uns ein Bibeltext anstößig, fremd und (noch) rätselhaft erscheint. Sie will uns demütig und lernbereit Gottes Reden durch sein Wort im ursprünglichen Sinn aufschlüsseln. So und nur so stoßen wir zur Kernaussage und damit zur eigentlichen Absicht eines Bibelschreibers vor. So und nur so erleben wir Gott den Schöpfer durch die Bibel zu uns redend. Exakt das ist mein Anliegen mit dem vorliegenden Buch «Lichter in der Nacht». Unsere biblisch-exegetische Feinarbeit muss mit dem Studium der Bibeltexte an sich beginnen. Mit den einzelnen Wörtern, den Sätzen, dem Kontext eines Bibelabschnittes und der ganzen Bibel (inklusive Altes Testament), der Grammatik, den historischen Gegebenheiten.
Um die prophetische Symbol- und Bildersprache des Johannes und der apokalyptischen Texte der Bibel im Allgemeinen besser zu verstehen, definiere ich als Hilfe vier verschiedene Schlüssel. Diese werden uns helfen, die Bibeltexte besser aufzuschlüsseln. Ich sage bewusst nicht «um die Bibeltexte vollends aufzuschlüsseln», denn