Ein gestalterisches Grundprinzip von Eine Neue Aufklärung wird auch in diesem Buch angewendet, nämlich dieses, dass die Thematik nicht nur aus einer Perspektive, sondern aus vielen, sich ergänzenden Perspektiven dargestellt wird. So wird Advaita Vedanta auf der Grundlage der Upanishaden, die hier zusammengefasst werden, aber auch auf der Grundlage der Darstellungen der modernen Advaita Vedanta-Bewegung erklärt. Auch die praktische Umsetzung (wenn man so sagen kann), also das zur Befreiung führende System des Vedanta wird zum einen in seinen philosophischen Grundlagen dargestellt, zum anderen auch durch eine Sammlung von „Pointern“, die von unterschiedlichen Lehrern, von Ramana Maharshi, Rupert Spira, Mooji, Eckhart Tolle, Francis Lucille usw., inspiriert sind, vermittelt. Es wird im Zusammenhang anderer Lehren, speziell der christlichen, aber auch anderer hinduistischer Lehren betrachtet. Es wird in einen größeren philosophischen Kontext gestellt, wobei die Quellen für diesen Kontext unterschiedlicher Natur sind, insofern sowohl philosophische Ansätze, die mit Kant, Schopenhauer und Eine Neue Aufklärung zu tun haben, als auch Nahtoderfahrungen berücksichtigt werden. Während also Advaita Vedanta im Kontext eines größeren Weltbildes betrachtet wird, wird es ebenso auch in Beziehung gesetzt zu einem, meiner Auffassung nach, komplementären Weg, nämlich dem Bhakti-Weg, dem Weg des Herzens und der Liebe.
Eine wichtige These dieses Buches ist, dass es zwei unterschiedliche religiöse Ansätze gibt: der Glaube, der sich auf Offenbarung stützt, und die Selbsterforschung, die sich auf Erfahrung stützt. Den zuerst genannten finden wir besonders in den großen semitischen Offenbarungsreligionen, aber auch im Hinduismus. Den anderen Weg finden wir besonders im Buddhismus und anderen auf Selbsterforschung zielenden Lehren, wie etwa Advaita Vedanta, die Upanishaden, „the Direct Path“ (im Folgenden: „Der direkte Pfad“) usw. Jeder dieser zwei Wege ist ohne den anderen unvollständig, denn während Selbsterforschung unverzichtbar ist und die Methoden, die im Buddhismus und im Vedanta hierfür entwickelt worden sind, ein großer, hilfreicher Schatz sind, so ist doch das Weltbild dieser Lehren reduktionistisch, verkürzt und damit teilweise auch falsch und bedarf der Ergänzung durch Offenbarungen. Zu diesen zählen heute auch und besonders Nahtoderfahrungen, die uns auch zeigen, dass das, was für den einen (nämlich für den Nahtoderfahrenen) eine mystische (Selbst-)Erkenntnis ist, für den anderen (nämlich für den, der nur davon hört oder liest) eine Offenbarung bedeutet, etwas, das ihm durch jemand anderen offenbart wird und an das er nun glauben kann, oder nicht.
Was bedeutet Offenbarung? Auf Englisch heißt es sehr passend „revelation“: Es handelt sich also um eine „Enthüllung“ höherer, transzendenter Wahrheiten, die sonst, immanent, mit unserem Verstand oder mit empirischen Methoden, nicht zugänglich sind. Selbsterforschung ist immanent, kann aber zu transzendenten Offenbarungen führen. Grundsätzlich geben uns Offenbarungen Informationen über transzendente Welten, was auch heißt, dass der Begriff der „Offenbarung“ nur Sinn macht, wenn man von der Existenz solcher transzendenter Welten ausgeht. Religiöse Offenbarungen können durch Eingebungen einzelner Menschen zu uns kommen (diese Menschen nannte man früher allgemein „Propheten“). Sie können auch durch hellsichtige Menschen, durch „Auserwählte“, durch göttliche Inkarnationen, durch „Heilige“, oder durch Nahtoderfahrungen zu uns kommen. Dieser zuletzt genannte „Kanal“ dürfte heute einer der wichtigsten sein.
Die radikal nicht-dualistische Lehre des Advaita Vedanta ist in dieser materiellen Welt der scheinbaren totalen Trennung, in der wir leben, das stärkste „Gegengift“ und daher der für viele Menschen effektivste spirituelle Weg. Von einem höheren transzendenten Standpunkt aus betrachtet aber stellt die nichtdualistische Lehre des Advaita Vedanta eine zu starke Vereinfachung der wirklichen Verhältnisse dar. Ich glaube sogar, dass der radikale Nicht-Dualismus des Advaita Vedanta auf viele Menschen deswegen abschreckend wirkt, weil er nicht in einem größeren Kontext, in einer spirituellen Kosmologie eingebettet ist. Diese Einbettung soll mit diesem Buch geschaffen werden. Denn das durchaus richtige Empfinden vieler Menschen, dass diese Lehre einseitig ist, kann auf diesem Wege rational nachvollzogen werden. Diese rationale Erklärung der berechtigten unbewussten Widerstände gegen den radikalen Nicht-Dualismus kann dazu führen, dass man die Lehren des Advaita Vedanta effektiver anwenden kann.
In den westlichen, semitischen Religionen ist der Weg der Hingabe und Liebe, des Bhakti, viel entscheidender. Im Osten ist der Weg des Wissens und der Erfahrung dominanter. Wie schon in Eine Neue Aufklärung gesagt, müssen diese beiden Teile zu einem neuen Ganzen zusammenwachsen. Paramahansa Yogananda war ein wirklicher Wegbereiter einer solchen neuen, integrierten west-östlichen Spiritualität. Yogananda, der ein echter Bhakta war, berichtet in seinem bekanntesten Buch, Autobiography of a Yogi, von vielen Offenbarungen, die er in seinem Leben erleben durfte.
Die Rückkehr zur Einheit ist ein gemeinsames Ziel aller Spiritualität; nur die Wege, die die Traditionen gehen, unterscheiden sich. Ein wichtiger vermeintlicher Gegensatz zwischen Christentum und Hinduismus sollte schon hier besprochen werden. Es hat den Anschein, als habe das Christentum insofern einen gänzlich anderen Ansatz als der Hinduismus, als es im Christentum viel mehr um den Willen und um moralisches Handeln geht: um den Willen zum Guten oder zum Bösen oder, anders gesagt, den bösen oder guten Willen. Im Hinduismus andererseits scheint es vor allem um Bewusstsein und Erkenntnis zu gehen. Dieser vermeintliche Gegensatz löst sich aber auf, wenn man sich folgende Zusammenhänge vergegenwärtigt: Der Wille des Menschen geht immer in die gleiche Richtung. Der tiefste Wunsch jedes Menschen ist Freude und Glück. Dies liegt daran, dass Freude und Glück seine wahre, tiefste, göttliche Natur sind. Daneben gehören auch Bewusstsein, Wissen und Weisheit zu seiner göttlichen Natur, weshalb auch diese zu seiner „Grundmotivation“ gehören. Wenn also jeder Mensch im Grunde dasselbe will (nämlich Freude und Glück), warum gibt es dann einerseits den bösen Willen und andererseits den guten Willen? Der Wille ist hier ganz allein eine Folge der Erkenntnis oder des Bewusstseins. Wenn ein Mensch nicht erkennt, dass er eins ist mit Gott und allem Leben, wenn er sich als getrennt erlebt, dann glaubt er, dass Glück und Freude dadurch erreicht werden können, dass er alles Gute und alle Freude nur für sich selbst, für dieses getrennte Wesen, für seinen physischen Körper beansprucht. Er meint dann, dass das Glück und die Freude des vermeintlich „Anderen“ (also anderer Personen oder physischer Körper) hierfür geopfert werden können oder sogar müssen.
Das Entscheidende im Hinblick auf den guten oder bösen Willen ist also ganz allein die Selbsterkenntnis und Selbstwahrnehmung des Menschen. Wenn sich der Mensch als verbunden erlebt, als Teil von allem, dann wird er folgerichtig und „automatisch“ das tun, was man als „moralisch gut“ bezeichnet. Ein Mensch hingegen, der sich als getrennt erlebt, kann solche guten Handlungen zwar imitieren, aber das sind dann bloße Äußerlichkeiten. Die „guten Werke“, die im Christentum so sehr Vordergrund stehen, sind bloß die Folge der rechten Selbsterkenntnis, die im Hinduismus im Vordergrund steht. So könnte man zwar von zwei unterschiedlichen Ansätzen sprechen, aber der Kern ist der gleiche, vor allem dann, wenn man berücksichtigt, dass Jesus Christus die Selbsterkenntnis gelehrt hat, indem er gesagt hat: „Ich und der Vater sind eins“ und „Das Reich Gottes ist in euch“. Die mystischen Aussprüche Christi stehen dem Advaita Vedanta sehr nahe. Aber gerade dieser Teil seiner Lehre wurde am häufigsten gar nicht oder falsch verstanden, einfach weil er im Kontext der aus Vorschriften bestehenden Morallehren des Alten Testaments manchen vielleicht als weniger wichtig erschien und weil er mehr auf das Innere zielt als auf das Äußere, das den allermeisten Menschen leider näher liegt und das sie leichter verstehen können.
Im Interesse der Annäherung der spirituellen