Die Krise des Jahres 2008 hat auf besonders starke Weise gezeigt, welche desaströsen gesellschaftlichen Verwerfungen damit einhergehen, wenn civil rights und social rights aus dem Lot geraten. Aber alle Demokratien der westlichen Welt haben, in dem einen oder anderen Maß, während der vergangenen 30 Jahre Defizite aufgebaut. Zwar steigt die Produktivität in den Ländern aufgrund zunehmender Automatisierung und Digitalisierung, jedoch macht sich dies nur im Bruttoinlandsprodukt bemerkbar und nicht in den Portemonnaies der Haushalte. Infolgedessen können sich Menschen über die Zeit weniger leisten, und es entsteht ein Gefühl der Entkoppelung, des Abgehängtseins. Damit einher geht die Angst davor, wie viele Arbeitsplätze der technologische Fortschritt in den kommenden Jahren vernichten wird. Unter den Stichwörtern künstliche Intelligenz und Robotik subsumieren viele Menschen ihre Sorgen, alsbald ohne Job dazustehen und von Maschinen ersetzt zu werden. Auch wenn eine zunehmende Automatisierung immer noch die meisten Arbeitsplätze wegrationalisiert, so gibt es bereits Untersuchungen, die zeigen, dass sowohl in Arztpraxen als auch in Bankfilialen und Rechtsanwaltskanzleien aufgrund des Einsatzes von künstlicher Intelligenz in Zukunft viele Jobs verloren gehen werden. Erstmals seit der Industrialisierung erfasst diese Welle nicht nur Menschen, die mit ihrer körperlichen Kraft ein Auskommen haben, sondern auch Menschen mit sogenannten White-Collar-Jobs, also mit bessergestellten Bürotätigkeiten.
Die Angst, von diesem Wandel heimgesucht zu werden, hat die Mittelschicht erreicht. Unsicherheit greift um sich. In einer Umfrage der Uni Göttingen, die sich an Anhänger der rechtsgerichteten Pegida wandte, gaben etliche der Befragten an, dass es ihnen heute genauso gut oder sogar besser ginge als vor zehn Jahren. Sie hätten aber Angst, dass dies in Zukunft nicht mehr so sein könnte, Angst um sich selbst, um ihre Kinder und Enkelkinder. (Die Studie konnte nicht genügend Probanden befragen, um am Ende als repräsentativ zu gelten. Die Universität entschied sich gemäß Angaben von Spiegel online dennoch zur Veröffentlichung, weil auch die gemachten Stichproben einen gewissen Einblick zuließen.)
In seinem Buch Der Zukunftsschock: Strategien für die Welt von morgen hat Alvin Toffler bereits vor einem halben Jahrhundert beschrieben, was in einer solchen Situation geschieht: Wenn der (technologische) Wandel dermaßen Fahrt aufnimmt, dass selbst die Eliten in einem Land ihn nicht mehr erklären können, dann werden die Menschen unsicher und ängstlich. Kurz darauf finden sich Populisten und Hardliner ein, die die Ängste der Menschen instrumentalisieren und für ihre Zwecke ausnutzen. Dann wiederum sind die Menschen bereit, eine Wir-gegen-die-Argumentation anzunehmen. Ein Anderer – ein Sündenbock – wird gebraucht, der als Grund für die Misere, in der man sich befindet, herangezogen werden kann. Der französische Philosoph René Girard hat zum Thema des Sündenbocks gearbeitet. Seiner Auffassung nach – er hat alle antiken Erzählungen studiert, in denen ein Sündenbock vorkommt – führt ein gemeinsamer Sündenbock verfeindete Menschen und Gruppen wieder zusammen. Im Gegensatz zum biblischen Sündenbock, der mit der Sünde des Volkes beladen zum Verenden in die Wüste geschickt wird, wird der Girard’sche Sündenbock durch Tötung aus der Welt geschafft. Auch und gerade in der Coronakrise tritt dieses Motiv verstärkt auf: Donald Trump nannte Covid-19 mehrfach »das chinesische Virus«, um von seinen eigenen Verfehlungen und denjenigen seiner Administration abzulenken und stattdessen »die Chinesen« als die Verursacher der weltweiten Plage an den Pranger zu stellen.
Autokraten, Populisten, Strongmen – die Begriffe (und wer dahintersteckt) mögen verschieden sein. Alle drei aber nutzen die Unsicherheit und Ängste von Menschen aus mit dem Ziel, sich selbst an die Macht zu bringen und dort zu halten. Um das zu bewerkstelligen, zerstören sie die Säulen, die ich als Trinität der Demokratie beschrieben habe. Sie diskreditieren Journalisten, Künstler und Wissenschaftler und denunzieren all jene als »Experten« und »Elite«, die in einer Gesellschaft für Pluralität und Diversität stehen.
Demokratien sind gleich doppelt in Gefahr: von innen durch jene, die sich als Alternative zur etablierten Demokratie positionieren, und von außen durch jene, die sich zugunsten ihrer Gefolgschaft in den demokratischen Ländern engagieren und dort die öffentliche Meinung korrumpieren und Wahlen manipulieren.
Weder Fukuyama noch Huntington haben sich die Weltordnung der Gegenwart in dieser Weise ausgemalt, als sie nach dem Ende des Kalten Krieges in Stanford und Harvard ihre Bücher schrieben. Huntington würde sich besonders wundern: Er hat eine konfliktreichere Welt heraufziehen sehen. Der westlichen Welt prophezeite er, dass ihre Macht insgesamt geringer werden würde, wobei der Einfluss der Vereinigten Staaten von Amerika durchaus verhindern würde, dass der Westen auf Abwege geriete. An einen Präsidenten wie Donald Trump, der erklärtermaßen ein Freund von Autokraten und Autokratie ist, hätte Huntington in seinen kühnsten Träumen nicht gedacht. Trump liebt das Faustrecht mehr, als er internationale Abkommen schätzt. (Es ist nicht so, dass die USA vor ihm nicht auch schon hemdsärmelig aufgetreten wären, aber kein US-Präsident vor ihm hat so wenig Respekt vor der Verfassung und den Institutionen der USA gehabt wie Donald Trump.)
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