In diesem Tumult der Leidenschaften wird ein so welthistorisches Geschehnis wie die Entdeckung Brasiliens kaum bemerkt, und nichts ist für die Geringschätzung dieser Tatsache charakteristischer, als daß Camões in seinem Heldengedicht unter den Tausenden von Zeilen nicht mit einer einzigen der Auffindung oder Existenz Brasiliens überhaupt Erwähnung tut. Die Seeleute Vasco da Gamas haben kostbare Stoffe mitgebracht, Juwelen, Edelsteine und Gewürze und vor allem die Nachricht, daß tausendmal und tausendmal mehr an solcher Beute in den Palästen der Zamorins und der Radjahs bereitliegt. Wie arm dagegen ist die Beute des Gaspar de Lemos – ein paar bunte Papageien, einige Proben Holz, ein paar Früchte und die ernüchternde Kunde, daß man den nackten Menschen dort nichts nehmen könnte. Er hat kein Staubkörnchen Gold gebracht, keinen einzigen Edelstein, keine Gewürze, nichts von diesen Kostbarkeiten, von denen eine Handvoll wertvoller ist als ganze Wälder Brasilholz, Schätze, die sich mit ein paar Schwerthieben, ein paar Kanonenschüssen leicht erraffen lassen, während die Baumstämme erst gefällt werden müssen, ehe man sie versägen, verschiffen und dann verkaufen kann. Wenn diese Ilha oder Terra de Santa Cruz Reichtümer enthält, so können es nur potentielle sein, Reichtümer, die in jahrelanger mühsamer Arbeit der Erde entrungen werden müssen. Aber Portugals König braucht raschen, greifbaren Gewinn, um die Schulden zu zahlen. Erst also Indien, Afrika, die Molukken, den Orient! So wird Brasilien die Cordelia dieses König Lear, die mißachtete der drei Schwestern Asien, Afrika und Amerika und doch die einzige, die ihm in der Stunde der Not die Treue halten wird.
Es entspricht also nur der harten Logik der Notwendigkeiten, daß sich das von seinen phantastischen Erfolgen berauschte Portugal zunächst kaum um Brasilien kümmert; der Name dringt nicht ins Volk, er beschäftigt nicht die Phantasie. Die deutschen und italienischen Geographen zeichnen die Linie der Küste als Brassil oder Terra dos Papagaios auf gut Glück in ihre Landkarten ein, aber die Terra de Santa Cruz, dieses leere grüne Land hat nichts, um Anziehung auf Seeleute oder Abenteurer zu üben. Doch wenn König Manuel weder Zeit noch Neigung hat, dieses neue Land richtig zu nützen und zu schützen, so ist er doch gleichzeitig nicht gewillt, auch nur einen Fußbreit dieser Erde andern zu gönnen, weil Brasilien ihm den Seeweg nach Indien schützt und weil vor allem Portugal in seinem Rausch von Glück und Eroberungslust mit seiner kleinen Hand am liebsten die ganze Erde decken möchte. Zäh, ausdauernd und geschickt kämpft er mit Spanien um die Anerkennung, daß dies Gebiet nach dem Vertrage von Tordesillas in seine Zone falle; beinahe kommt es zwischen den beiden Ländern zum Konflikt um eines Landes willen, das keines von ihnen wirklich will und braucht, denn beide wollen sie nur Edelsteine und Gold. Aber rechtzeitig sehen beide ein, wie sinnlos es wäre, gegeneinander die Waffen zu wenden, wo sie jeden Mann und jede Bleikugel benötigen, um die plötzlich ihnen vom Himmel zugefallenen neuen Welten auszuplündern. 1506 kommt es zu einer Einigung, die Portugal sein bisher bloß platonisch ausgeübtes Recht auf Brasilien bestätigt.
Von Spanien, dem mächtigen Nachbarn, ist nun keinerlei Gefahr mehr zu befürchten. Aber die Franzosen, die bei der Teilung der Erde zwischen Spanien und Portugal zu kurz gekommen sind, beginnen diesem noch unbesiedelten und unorganisierten Stück breiter, schöner Erde zusehends ihre Aufmerksamkeit zu widmen. Immer häufiger erscheinen Schiffe aus Dieppe und Le Havre, um Brasilholz zu holen, und Portugal hat in den Hafenplätzen noch keine Schiffe, keine Soldaten, um piratischen Eingriffen zu wehren. Sein Rechtstitel ist nur ein papierner, und mit einem einzigen raschen Handstreich, mit fünf, vielleicht sogar bloß mit drei bewaffneten Schiffen könnte sich Frankreich, wenn es wollte, der ganzen Kolonie bemächtigen. Um die weitgestreckte Küste zu verteidigen, tut also eines not: sie zu besiedeln. Wenn die Krone Brasilien zu einem portugiesischen Land machen und es sich als Krongut erhalten will, muß sie sich entschließen, Portugiesen hinüberzuschicken. Das Land mit seinem riesigen Raum, mit seinen unbeschränkten Möglichkeiten will Hände und braucht Hände, und jede neue, die kommt, winkt hinüber, um neue und neue zu fordern. Von Anfang an, durch die ganze Geschichte Brasiliens, wiederholt sich dieser Ruf: Menschen, mehr Menschen! Es ist wie die Stimme der Natur, die wachsen und sich entfalten will und zu ihrem wahren Sinn, zu ihrer Größe, den notwendigen Helfer, den Menschen, braucht.
Aber wie Kolonisten finden in dem kleinen, schon halb ausgebluteten Lande? Portugal hat zu Beginn seiner Eroberungszeit höchstens dreihunderttausend erwachsene Männer, davon sind ein gutes Zehntel, die stärksten, die besten, die mutigsten mit den Armadas und von diesem Zehntel neun Zehntel schon dem Meer, den Kämpfen, den Krankheiten zum Opfer gefallen. Immer schwerer wird es, obwohl die Dörfer schon entvölkert, die Felder verödet sind, Soldaten und Matrosen zu finden, und selbst unter der Gilde der Abenteuerlustigen will keiner nach Brasilien. Die vitalste, die tapferste Schicht des Landes, die Fidalgos, die Adeligen und Soldaten weigert sich; sie wissen, daß in der Terra de Santa Cruz kein Gold zu holen ist, keine Edelsteine, kein Elfenbein und nicht einmal Ruhm. Die Gelehrten wiederum, die Intellektuellen, was sollen sie tun dort im Leeren, abgeschnitten von aller Kultur, die Händler, die Kaufleute, was sollen sie handeln in einem Land mit nackten Kannibalen, was heimbringen in umständlichem Hin und Her, wo doch eine einzige Fracht von den Molukken tausendfach das Risiko lohnt? Selbst die ärmsten portugiesischen Bauern ziehen vor, die eigene Erde zu bestellen, statt sich in diese fremde und unbekannte der Kannibalen zu wagen. Kein Mann von Adel und Rang, von Reichtum und Kultur zeigt also die mindeste Neigung, sich nach diesen leeren Küsten einzuschiffen, und so sind, was in den allerersten Jahren in Brasilien haust, kaum mehr als ein paar gestrandete Seeleute, ein paar Abenteurer und Deserteure von Schiffen, die durch Zufall oder Trägheit dort zurückgeblieben sind und ihr Bestes zu einer raschen Besiedlung ausschließlich dadurch tun, daß sie dort unzählige Mischlinge, die sogenannten Mamelucos zeugen – einem einzigen werden dreihundert zugeschrieben; aber im ganzen bleiben sie doch nur ein paar hundert Europäer in einem Land, dessen bekanntes Ausmaß damals schon fast so groß ist wie Europa.
So ergibt sich zwingend die Notwendigkeit, der Einwanderung mit Gewalt und Organisation nachzuhelfen. Portugal wendet dafür die schon in Spanien erprobte Methode der Deportation an, indem alle Alcalden des Landes aufgerufen werden, Übeltäter nicht mehr zu richten, sofern sie sich bereit erklären, nach dem neuen Weltteil zu fahren. Wozu die Gefängnisse überfüllen und Verbrecher jahrelang auf Staatskosten verpflegen? Besser, man schickt die degregados auf Nimmerwiederkehr über das Meer in das neue Land; dort können sie am Ende noch nützlich sein. Wie immer ist es scharfer, nicht ganz reinlicher Dünger, der eine Erde am besten für künftige Ernte reif macht.
Die einzigen Kolonisten, die freiwillig kommen, nicht aus Ketten, ohne Brandmal und richterliches Verdikt, sind die Cristãos Novos, die frischgetauften Juden. Aber auch sie kommen nicht ganz freiwillig, sondern aus Vorsicht und Angst. Sie haben in Portugal mehr oder minder aufrichtig die Taufe genommen, um dem Scheiterhaufen zu entgehen, fühlen sich jedoch mit Recht im Schatten Torquemadas nicht mehr sicher. Besser also rechtzeitig hinüber in ein neues Land, solange die grimmige Hand der Inquisition noch nicht über den Ozean zu greifen vermag. Geschlossene Gruppen solcher getaufter und auch ungetaufter Juden lassen sich in den Hafenstädten nieder als die eigentlich ersten bürgerlichen Ansiedler; diese cristãos novos werden die ältesten Familien von Bahia und Pernambuco und gleichzeitig die ersten Organisatoren des Handels. Mit ihrer Kenntnis des Weltmarkts sorgen sie für die Fällung und Verschiffung des pau vermelho, des Brasilholzes, das damals den einzigen Ausfuhrartikel Brasiliens bildete, und dessen Handelskonzession einer der Ihren, Fernando de Noronha, vom König laut Vertrag auf längere Frist erworben hat. Nicht nur portugiesische, sondern auch ausländische Schiffe kommen jetzt ziemlich regelmäßig, um diese seltene Fracht zu holen, und allmählich bilden sich von Pernambuco bis Santos kleine Hafensiedlungen als Urzellen der künftigen Städte. Inzwischen sind in verschiedenen Expeditionen kleine und größere Flotten bis zum Rio de la Plata vorgestoßen und haben die Gemarkung der Küste vorgenommen. Aber noch immer liegt unbekannt und ohne Grenzen hinter