Einen andern Tag hinauf in höhere Zonen. Kann man Berge sehen inmitten einer Stadt ohne die Lust, sie zu besteigen, ohne das Verlangen, klar ausgebreitet das steinerne und grüne Gewirr zu sehen, in dem man lebt? Es wird einem leicht gemacht, denn der Corcovado, der 700 Meter hoch sich über – oder eigentlich inmitten – der Stadt erhebt und sein nachts elektrisch erhelltes Kreuz mit großartiger Geste segnend über die ganze Bucht von Guanabara hebt, ist nicht einmal ein Ausflug zu nennen; in zwanzig Minuten klettert ein Auto die scharfen Kurven auf den beschatteten Wegen hinan bis zum Gipfel. Und hier tut ein unvergeßliches Panorama sich auf. Endlich, endlich überschaut man die ganze Stadt mit ihrer Bucht, ihren Bergen und Seen, ihren Inseln und Schiffen, ihren Häusern und ihrem Strand! Endlich sieht man, mit blauen, grünen, weißen Linien gezeichnet, den Grundriß ihrer Anlage und gleichzeitig ihre Mächtigkeit. Vom Wind umbraust, an die Riesenstatue des Redentor gelehnt, umfaßt man die ganze Vista; es ist wahrhaftig der Blick aller Blicke und doch unfotografierbar wie alles in Rio, weil zu groß in seinen Perspektiven ausgespannt. Denn überall ist Blick, zur Rechten, zur Linken, nach Ost und West und Nord und Süd, da das Meer, ins Unendliche blauend, dort die Bergkette von Teresópolis, da das flache Land und der Strand und die Bucht und die Stadt; jetzt erst begreift man die einzigartige Kombination aus dieser Höhe des Vogelflugs.
Und doch ist der Corcovado bloß einer unter den Gipfeln und der beliebteste nur, weil für die Touristen durch Bahn und Autostraße so bequem zugänglich gemacht. Wie viele Wege noch auf diesen Bergen und Hügeln, wieviel Ausblicke auf jedem, der Blick von Boa Vista, vom Pico da Tijuca, von der Mesa do Imperador, von der Vista Chinesa, von Santa Teresa; von all den namenlosen Winkeln und Terrassen! Was von dem Gipfel des Corcovado aus zusammengeschlossen schien, vereinzelt, verteilt sich wieder, das Panorama löst sich filmisch auf in einzelne landschaftliche Szenen: man wird nicht fertig mit Rio. Man kann es nie zu Ende kennen, und das ist seine eigentliche, seine unvergängliche Schönheit.
Von den Hügeln hat man inmitten der endlos gebreiteten Bucht Inseln und Inseln erblickt, grau und felsig die einen, grün und blühend die andern, alle wie in einem Spiel von Giganten achtlos in die azurne Fläche gestreut. Soll man sie nicht auch noch besuchen? Ja, man soll es, wenigstens einige von ihnen. Ein breites, stämmiges Ferryboot steuert einen hinaus, vorbei zuerst an den Inseln knapp vor der Reede, die meist Nutzzwecken dienen, der Marineakademie oder als Petroleumdepots; erst nach einer Stunde nähert man sich den interessanteren. Manche sind nur nackte, kahle Riffe, von Vögeln umschwärmt, manche palmenbestanden und mit einzelnen alten Häusern. Endlich landet man in Paquetá, und mit einem Mal klingen in einem die alten Kindheitserinnerungen auf, die Erinnerungen an die Reisebücher: Columbus in Guanahani, Kaptän Cook in Tahiti und Robinson auf seinem Eiland. Denn Paquetá, das ist eines dieser seligen Eilande, dicht umblüht, flammend von Blumen, der erfüllte Südseetraum. Keine Autos, keine fashionablen Badeplätze wie in Honolulu und Hawaii, die dem Geld ihre Unschuld verkauft haben. Auf einem alten Pferdewagen umfährt man den Strand; ab und zu ein kleines Haus, ein Feld, ein Garten, sonst überall unverstörte, herrlich tropische Natur jenseits der Zeit und der Zeiten. Man hat das Gefühl, daß diese Insel niemandem gehört und jedem, aber – wunderbares Widerspiel – Rio ist wahrhaft unerschöpflich in der Kunst der Kontraste – nur durch einen schmalen Meerarm getrennt liegt gegenüber eine Insel, die wiederum einem einzigen gehört: Brocoió. Hier hat sich der Besitzer aus einem jahrelang unbehausten winzigen Eiland ein Paradies für sich allein gezaubert und in seine Mitte ein entzückendes Haus gestellt, frei mit seinen Terrassen nach allen Seiten, mit allem Komfort unserer Zeit, mit Büchern und einer Orgel und verlockenden Gastzimmern. Wie Paquetá ganz Natur, ist Brocoió ganz Kultur. Im wohlgepflegten, mit Steinen geränderten und gekiesten Garten spielen Hunde und Pfauen, und seltenes Getier leuchtet auf, weite Gärten führen den Weg eine Anhöhe empor, in einer halben Stunde ist das ganze Reich umzirkt; aber welch eine begnadete Einsamkeit hier unter Palmen, die gegen einen ewig blauen Himmel lehnen und niederschatten auf ein ewig blaues Meer! Und Einsamkeit, Trosteinsamkeit nur so lange, als der Sinn sie ertragen will: ein Ruck, und das Motorboot springt an, und in einer halben Stunde ist man wieder in der Stadt und umdonnert vom Leben. Und schon, wenn der Umriß mit den Palmen, den schön erhobenen, in den Wellen verschwindet, fragt man sich, ob man dies wirklich gesehen oder nur geträumt hat. Wieder hat man (und wie oft nun schon in dieser Stadt!) einen Tropfen getrunken vom goldenen Überfluß der Welt!
14. Sommer in Rio
Es wird November. Die sogenannte »Saison« von Rio geht zu Ende und die Freunde, denen man begegnet, haben alle dieselbe Frage: wohin gehen Sie über den Sommer? Es ist ein Axiom, daß man die Monate, die man bei uns Winter nennt – Dezember, Januar, Februar und März – in die Berge flüchtet, oder es ist zum mindesten ein alter Brauch, den Kaiser Pedro II. für die Gesellschaft eingeführt hat. Im Sommer verlegte er seine Residenz nach Petrópolis, ihm folgte der Hof und dem Hof die Gesellschaft; alle Gesandtschaften und Ministerien verlegten ihre Tätigkeit in diese nahe und kühlere Gartenstadt, die heute dank des Autos eine Art Vorstadt von Rio geworden ist. Während der Sommerzeit, in den schulfreien Monaten, wohnt die Familie in einer Villa in Petrópolis, und der Geschäftsmann, der höhere Beamte steuert abends mit dem Auto hinauf und morgens hinab: es ist keine Reise mehr.
Es ist keine Reise mehr und eher ein Ausflug zu nennen. Zwanzig oder dreißig Minuten durch das flache Land, das die Energie der Regierung den früher fieberbringenden Sümpfen abgewonnen. Dann steigt die breite, blank zementierte Straße in scharfen Kurven die Höhe empor. Serpentine um Serpentine schraubt sie sich hoch, allmählich öffnet sich der Ausblick über das Tal und die Bucht, Kilometer um Kilometer schmettert vorbei und die Luft, die einen anspringt, wird frischer und kühler. Endlich eine Wendung und – man ist kaum mehr als anderthalb Stunden gefahren – die Höhe ist erreicht; kleine gefällige Häuschen, von einem Kanal durchzogen, flankieren die Straße und man ist in einem Kurörtchen, einem Sommerresidenzchen, das ein wenig altväterisch anmutet mit seinen roten Brückchen und etwas antiquierten Villen. Irgendwie, man weiß nicht warum, denkt man an ein deutsches Provinzstädtchen. Und, siehe da, man hat richtig gefühlt. Hierher hatte vor vielen Jahrzehnten der Kaiser deutsche Ansiedler kommen lassen, und sie bauten ihre Häuschen nach heimischer Art; sie gaben ihnen deutsche Namen und pflanzten in ihre kleinen schmucken Gärtchen wie zu Hause die Pelargonien. Auch das kaiserliche Palais wirkt wie das eines deutschen Duodezfürstentums, das durch eine nette Zauberei auf einen brasilianischen Berg getragen wurde; alles hat ein hübsches, zierliches Format, und erst in den letzten Jahren haben die neuen Villen den Charakter anspruchsvoller gemacht. Jetzt drängt sich alles hier ein wenig zusammen, die Menschen und die Häuser; die Straßen, vormals nur für die schweren, langsamen Karossen gedacht, schwirren von Automobilen, die Unruhe von Rio rückt allmählich den Berg herauf. Aber die Lieblichkeit des Ortes wird niemals ernstlich bedroht werden können, denn die Natur selbst ist hier lieblich; die Berge zeigen keine Schroffen mehr sondern weichen in flutenden Wellen zurück, überall leuchten und flammen die Blumen in dieser Stadt der Gärten. Tagsüber klimmt das Quecksilber hier ungehemmt empor, aber die Nächte sind im Gegensatz zu Rio kühl und die Schwüle entlüftet; noch ist es nicht die starke, die ozonische Luft, die wir mit dem Bergland verbinden, aber doch schon Kühle und Reine, von dem Atem der Wälder und der Blumen leise durchduftet.
Wer wirkliche Berglandschaft fordert, muß