Den entscheidenden Stoß gibt der unglückliche Krieg gegen Argentinien, in dem Brasilien seine »cisalpinische Republik« verliert. Im historischen Sinne bedeutet der Ausgang dieses Krieges zwar eher einen politischen Gewinn; durch die Schaffung eines unabhängigen Uruguay ist ein für allemal jeder Konflikt zwischen den beiden mächtigen Schwesternationen Brasilien und Argentinien ausgeschaltet und durch dauernde Freundschaft ersetzt. Aber 1828 sieht das Land nur den Verzicht auf die La-Plata-Mündung, der Brasilien sehnsüchtig seit Jahren zustrebt, und der Kaiser muß diesen Unmut fühlen. Es hilft nichts, daß er 1830, nach dem Tode João VI., die ihm rechtlich zufallende Krone Portugals ausschlägt und damit bekundet, daß er sich eindeutig für Brasilien entschieden habe; er bleibt hier der Fremde, der Ausländer, und immer mehr organisieren sich die nationalen Elemente gegen ihn. Die französische Julirevolution gibt seiner Popularität den letzten Rest, denn alles Französische wirkt stimulierend auf die brasilianischen Parlamentarier, die in ihren Reden, Verordnungen und Debatten gewohnt sind, das Pariser Vorbild nachzuahmen, und diese Kopierung des Französischen geht so weit, daß groteskerweise zwei führende brasilianische Politiker sogar Lafayette und Benjamin Constant heißen. Nur rechtzeitige Resignation des unbeliebten Kaisers kann den Thron noch gegen den republikanischen Ansturm retten; so dankt Pedro I. 1831 zugunsten seines Sohnes ab in der richtigen Erkenntnis: Meu filho tem sôbre mim a vantagem de ser brasileiro. Auch bei dieser Abdankung wird wieder die brasilianische Tradition glücklich gewahrt, staatspolitische Umstürze womöglich ganz ohne Blutvergießen und in konzilianter Art zu vollziehen. Still, nicht verfolgt von Haß und Groll, verläßt der erste Kaiser Brasiliens das Land.
Der neue Kaiser Pedro II., o imperador menino, dem Blut nach zugleich ein Habsburger und ein Bragança, ist bei der Abdankung seines Vaters fünf Jahre alt. José Bonifácio übernimmt für ihn die Regentschaft, und nun beginnt vor und hinter den Kulissen ein wildes Politisieren und Intrigieren. Für Brasilien, das dreihundert Jahre unselbständig und mundtot gewesen, sind die parlamentarischen Rechte und die Pressefreiheit zu neue Dinge, als daß sich nicht alle daran berauschten. Unablässig gehen die Debatten; die politische Erregung bleibt aus bloßer Rede- und Politisierfreude eigentlich ohne äußeren Anlaß – ständig in Hochspannung, eine Partei arbeitet für die Errichtung einer Republik, eine andere sucht den persönlichen Regierungsantritt Pedro II. zu beschleunigen, dazwischen überkreuzen sich persönliche Intrigen. Keine Regierung, keine Partei scheint wirklich stabil. Viermal in sieben Jahren wird der Regent gewechselt, ehe endlich die konservative Partei, um eine gewisse Beruhigung zu erzwingen, 1840 die vorzeitige Majorennitätserklärung Pedro II. durchsetzt. Mit fünfzehn Jahren wird der bisherige imperador menino am 18. Juli feierlich zum Kaiser von Brasilien gekrönt.
Wie wenig Vertrauen die Welt den ständigen Bündeleien und Zänkereien der südamerikanischen Politiker entgegenbringt, zeigt die kühle Aufnahme des geheimen Botschafters, der sofort nach der Thronbesteigung nach Europa abgesandt wird, um für den jungen Kaiser eine Gemahlin von fürstlichem Rang zu suchen. Sein erster Weg geht nach Wien zu den Habsburgern, den nächsten Verwandten des jungen Kaisers. Aber während seinerzeit seinem Vater Pedro I. ohne Zögern eine Erzherzogin aus dem immer reichen Bestände der kaiserlichen Familie zugeteilt wurde, bleibt diesmal der allmächtige Kanzler Metternich abwartend und kühl. Die südamerikanischen Staaten haben durch die Unstabilität ihrer Regierungen, die fortwährenden Putsche ehrgeiziger Generäle und leidenschaftlicher Politiker in Europa viel an Kredit verloren. 1840 denkt man nicht mehr daran, eine Erzherzogin über das unruhige Meer in ein noch unruhigeres Land zu schicken, und selbst unter den Prinzessinnen minderer Kategorie zeigt keine einzige Neigung zu dieser überseeischen Kaiserkrone. Nachdem er ein ganzes Jahr vergeblich in Wien antichambriert, muß der Brautwerber sich zufriedengeben, eine napoletanische Prinzessin mit wenig Schönheit und wenig Geld, dafür aber reicher an Jahren als ihr zukünftiger Gatte, für den jungen Monarchen heimzubringen.
Aber diesmal wie sooft haben die berufsmäßigen Politiker sich in ihren Prognosen geirrt; dieser junge Monarch wird beinahe ein halbes Jahrhundert lang friedlich regieren und eine an sich schwierige Position mit Würde und unter allseitiger Achtung behaupten. Pedro II. ist dem Wesen nach eine kontemplative Natur, eher ein auf den Thron verschlagener Privatgelehrter oder Bibliothekar als ein Mann der Politik oder der Armee. Ein wahrhafter Humanist von anständiger Gesinnung, für dessen Ehrgeiz es höheres Glück ist, einen Brief von Manzoni, Victor Hugo oder Pasteur zu erhalten, als bei militärischen Paraden zu glänzen oder Siege zu erfechten, hält er sich – obwohl äußerlich durch seinen schönen Bart und sein würdiges Auftreten sehr eindrucksvoll – möglichst im Hintergrund und verbringt seine glücklichsten Stunden in Petrópolis bei seinen Blumen oder in Europa mit Büchern und in Museen. Seine persönliche Haltung ist – und damit wirkt er durchaus im Geiste seines Landes – konziliatorisch, und der einzige Krieg, den er während seiner langen Regierungszeit zu führen genötigt war, – der Kampf gegen Lopez, den aggressiven Militärdiktator von Paraguay – endet nach dem Siege mit einer vollkommenen Versöhnung des Nachbarstaates, sogar die militärischen Trophäen werden dem besiegten Lande freiwillig zurückgegeben. Durch die äußerlich imposante, innerlich vorsichtig farblose Haltung des Kaisers, durch die staatsmännische Überlegenheit Rio Brancos, der alle Grenzkonflikte durch Schiedsgerichte und internationale Vereinbarungen zu schlichten weiß, durch den sichtlich steigenden Reichtum des Landes, das, statt seine Grenzen gewaltsam zu erweitern, eine innere Konsolidierung anstrebt, erzwingt sich Brasilien in diesen fünfzig Regierungsjahren Dom Pedro II. eine ganz neue Respektstellung in der Welt.
Ein einziger Konflikt freilich ist durch alle diese Jahre nicht zu lösen, weil er mit seiner Spitze bis hart an den Lebensnerv des Landes reicht und eine allzu radikale Operation, einen unberechenbaren Kraft- und Blutverlust bedeuten würde: das Problem der Sklaverei. Seit Anbeginn ist die ganze landwirtschaftliche und industrielle Produktion Brasiliens einzig auf Sklavenarbeit fundiert; noch besitzt das Land weder genug Maschinen noch freie Arbeiter, um diese Millionen schwarzer Hände zu ersetzen. Aber anderseits ist – insbesondere seit dem nordamerikanischen Sezessionskrieg – die Sklavenfrage aus einem sozialen ein moralisches Problem geworden, das eingestandenerweise oder uneingestandenerweise das Gewissen der ganzen Nation bedrückt. Offiziell zwar ist seit 1831 – eigentlich schon 1810 durch einen Vertrag mit England – jeder neue Import von Sklaven und damit eigentlich der Sklavenhandel verboten; 1870 wird dieses Schutzgesetz ergänzt, durch das Gesetz des ventre livre, demzufolge jedem Kinde einer Sklavin schon vom Mutterleibe an die Freiheit gewährt ist. Durch diese zwei Gesetze wäre eigentlich praktisch die Sklavenfrage nur eine Frage der Zeit, keine prinzipielle mehr, weil jeder Zuwachs an neuen Sklaven verhindert ist und mit dem Absterben des lebenden Materials es bald nur mehr freie Menschen in Brasilien geben müßte. In Wirklichkeit kehren sich aber weder die Sklavenimporteure noch die Besitzer abgelegener Plantagen im geringsten an diese Gesetze. Fünfzehn Jahre nach dem Verbot des Sklavenhandels werden 1846 noch fünfzigtausend, 1847 nicht weniger als siebenundfünfzigtausend, 1848 sogar sechzigtausend Neger importiert, und da die mächtige Gruppe dieser Händler mit schwarzem Elfenbein aller internationalen Vereinbarungen spotten, muß die englische Regierung Kanonenboote armieren, um die Schiffe mit der verbrecherischen Fracht abzufangen. Von Jahr zu Jahr tritt das Sklavenproblem mehr in den Mittelpunkt der Diskussion, immer stärker wird der Druck der liberalen Gruppen, mit einem Schlag die »schwarze Schande« abzuschaffen, jedoch in gleichem, vielleicht noch in stärkerem Maße steigert sich die Gegenwehr der landwirtschaftlichen Kreise, die – nicht mit Unrecht – durch eine so plötzliche Maßregel eine katastrophale Krise für ein Land befürchten, dessen Wirtschaft zu neun Zehnteln auf der Sklavenarbeit fußt.
Für den Kaiser wird dieses Problem immer mehr zum persönlichen Konflikt. Als geistiger Mensch, als Liberaler und Demokrat, als sentimentale, wenn auch etwas habsburgisch kühle Natur, muß ihm die Sklaverei ein Greuel sein. Deutlich zeigt er seinen Widerwillen gegen alle, die mit diesem schandbaren Geschäft zu tun haben, indem er sich hartnäckig weigert, irgendeinem und auch dem reichsten Manne, der sein Vermögen durch Sklavenhandel gemacht hat, ein Adelsprädikat oder eine Auszeichnung zu verleihen. Es ist dem kultivierten Manne unermeßlich peinlich, bei seinen Besuchen in Europa vor den großen Vertretern der Humanität, deren Freundschaft er sucht, vor einem Pasteur, einem Charcot, einem Lamartine, einem Victor Hugo, einem Wagner, einem