Im Dialog bei Kennedy zur Aufforderung von Jesus an uns werden im Einzelnen verschiedene Argumente, Widerstände, Entschuldigungen und Ausweichmanöver geschildert, die uns allen, wenn es für uns irgendwo – wie man so schön sagt – ans Eingemachte geht, irgendwie vertraut sind. Stimmt’s?
In dem Koan zu dem Stein in der tiefen See von Ise, die es wirklich gibt und die tatsächlich sehr tief ist, haben wir eine Situation, die schon weiter fortgeschritten ist. Wie ich es schon sagte, geht es dem Schüler, der Schülerin damit etwa so: Ich würde gerne, aber wie? Wie soll ich das schaffen können?
Die alten Meister haben immer wieder darauf hingewiesen: 100 Meter Erklärungen sind nicht mit 10 Zentimetern Praxis zu vergleichen.
1 Meter Darlegung gleicht nicht 1 Zentimeter Praxis.56 Praktizieren wir also das, was nicht erklärt werden kann.
An diesem Punkt möchte ich abbrechen und euch mit der Aufforderung des Lukas-Evangeliums. „Fahret hinaus ins tiefe Wasser“ und mit dem Koan zur tiefen See von Ise in die Woche entlassen. Wie zitierte ich vorhin? „Genau dieser Geist, der verwirrt ist und nicht versteht, ist der Buddha-Geist. Es gibt keinen anderen.“ Sorgt euch nicht darum!
Danke!
54 Robert E. Kennedy, Zen Spirit – Mystische Wege zu Gott, 1997, S. 89 f.
55 A.a.O., S. 91 f. Alle Zitate an die neue Rechtschreibung angepasst.
56 Vgl. Dôgen Zenji, Eihei Koroku, Volume 1, Nr. 10, S. 81. Wörtlich lautet seine Darlegung dazu:
Therefore among the ancients, Daci said, “Expounding one yard does not equal practicing one foot. Expounding one foot does not equal practicing one inch.”
Dongshan said, “Practice that which cannot be expounded. Expound that which cannot be practiced.”
Yunju said, “When expounding there is no path of practice. When practicing there is no path of expounding. When neither expounding or practicing, what kind of path is that?”
Luopu said, “If both practice and expounding arrive, there is no original matter. If neither practice or expounding arrive, the original matter exists.”
09
Das Wunder, auf der Erde zu leben
Neulich suchte ich meinen Änderungsschneider auf. Eine Hose musste gekürzt werden. Das mag verwunderlich klingen, wenn man wie ich 1,98 m lang ist. Aber das gibt es. Also ging ich zu meinem Änderungsschneider in dem kleinen Geschäftszentrum, welches sich bei uns in Laufnähe befindet. Vor mir eine (Über-)Mutter mit ihrer Tochter, die offenbar einen Schulabschluss feiern wollte, wie das heutzutage so üblich geworden ist, in einem langen Kleid.
Es dauerte und dauerte. Ich setzte mich auf einen klapprigen Stuhl neben dem Eingang und tat, was ich immer in solchen Situationen tue. Ich nahm mein iPhone und öffnete meine Bibliothek, wählte Thich Nhat Hanh: Der furchtlose Buddha, den ich zur Zeit in solchen Wartepausen lese, und vertiefte mich in ein kleines Kapitel, während ich natürlich das ganze „dramatische“ Geschehen um die richtige Länge des Kleides gleichzeitig auch mitbekam.
Dann die Mutter in gespielter Rücksichtnahme: „Oh, haben Sie die ganze Zeit warten müssen?“ (Was denn sonst?) Ich sagte: „Kein Problem.“ Der Schneider: „Ein geduldiger Mensch.“
Als Mutter und Tochter gegangen waren und nur noch ein Schleier ihrer Aufregung und Wichtigkeit in dem auf einem Bügel deponierten Kleid und im Raum hing, las ich dem Schneider, der allseitig interessiert und (leider) auch sehr redselig ist, dann folgenden Satz vor, den ich gerade bei Thich Nhat Hanh gelesen hatte:
„Wir sollten jeden Tag so leben wie Menschen, die gerade dem Tod auf dem Mond entronnen sind.“57
Der Schneider verstand – natürlich – nichts.
Ihr versteht vielleicht etwas mehr. Aber auch ihr bedürft – nehme ich an – dazu einer Erläuterung.
Der zitierte Satz steht in einem Kapitel mit der Überschrift: Würdigen, wo wir sind. Es beginnt mit der Aufforderung, man solle sich vorstellen, dass zwei Astronauten zum Mond fliegen. Sie sind nun auf dem Mond. Da geschieht ein Unfall. Ihr Sauerstoffvorrat reicht noch für zwei Tage. Sie können nicht zurück zur Erde. Es besteht keine Hoffnung, dass jemand rechtzeitig von der Erde zu ihnen gelangt, um sie zu retten. Sie haben also nur noch zwei Tage zu leben.
Thich Nhat Hanh fährt dann fort:
„Würden Sie die Männer in diesem Augenblick fragen: ‚Was wünscht ihr euch am meisten?‘, bekämen Sie zur Antwort: ‚Wieder zu Hause zu sein und auf diesem wunderbaren Planeten zu wandeln.‘ Das wäre ihnen genug! …
Sie würden sich nur wünschen, wieder hier zu sein – auf der Erde zu wandeln, jeden Schritt zu genießen, den Klängen der Natur zu lauschen oder die Hand des geliebten Menschen zu halten, während sie nachts den Mond betrachten.“
Und dann folgt der schon zitierte Satz:
„Wir sollten jeden Tag so leben wie Menschen, die gerade dem Tod auf dem Mond entronnen sind.“
Dem setzt Thich Nhat Hanh später noch hinzu:
„Zen-Meister Linji (Rinzai) sagte, dass das Wunder nicht darin bestehe, übers Wasser oder durchs Feuer zu gehen, sondern darin, auf der Erde zu gehen.
Einfach nur zu gehen. Wenn wir so gehen, können wir andere inspirieren, es uns gleichzutun. Wir können jede Minute unseres Lebens genießen.“ 58
Gehen wir gut durch die Woche. Danke!
57 Thich Nhat Hanh, Der furchtlose Buddha, S. 46 (E-book).
58 A.a.O.
10
Wirkliche Einheit?
Vorhin las ich in Vorbereitung auf ein Dokusan das Koan von den 16 Bodhisattvas im Bad59. 16 Mönche sollen vor langer Zeit, – es soll zur Lebenszeit von Shakyamuni Buddha gewesen sein, so berichtet das Shûrangama Sutra –, entsprechend den allgemeinen Mönchsregeln zum Baden gegangen und dabei gemeinsam zu gleicher Zeit zu großer Erleuchtung gelangt sein.
Als ich das Koan studierte, dachte ich daran, dass ich in der vergangenen Woche das Vergnügen hatte, in der Schlei und in der offenen Ostsee baden zu können. Wunderbar, diese Berührung mit solchem Wasser! Da ist alles an und in uns angesprochen und wird angeregt, nur dies unmittelbar zu spüren. Du schwimmst und – bist. Punkt!
Solche Momente wie das Schwimmen im Meer, in einem Fjord, in einem Fluss oder in einem See sind für uns Stadtmenschen etwas Seltenes, etwas, das uns aus unseren alltäglichen Gewohnheiten herausholt, etwas, das unser menschliches Ganz-Sein – im wahrsten Sinne des Wortes – spürbar machen kann. Genauso wie der Anblick und das Hören der Meereswellen, der Geruch des Wassers und das Spüren des Windes auf unserer Haut …
Die Botschaft dieser besonderen Gelegenheiten kann sein, auch in unserem alltäglichen Leben spürsamer zu sein, – mit dem und in dem, was und wie wir sehen, hören und auf sonstige Weise wahrnehmen. In einem „Einfach so“. Nichts mehr, nichts weniger! Nichts davon wegnehmen, nichts hinzufügen. Beides verfälscht.
Auch wenn wir, – wie in einem anderen Koan60 berichtet wird –, glauben sagen zu können: „Das ganze Universum und ich selbst, wir haben die gleiche Wurzel. Alle Dinge und ich selbst sind eins. Das ist doch wunderbar.“, befinden wir uns bereits (oder noch) in einem Trennungszustand, denken wir konzeptionell.