„Aber was, wenn einige von ihnen Europäer sind?“, sagte Lacey. „Du weißt doch, dass sie am Festland alles etwas später machen. Wenn sie um neun oder zehn Uhr Abendessen, zu welcher Zeit haben sie dann ihr Mittagessen? Wahrscheinlich nicht um ein Uhr!“
Gina fasste sie an den Schultern. „Du hast recht. Aber sie verbringen die Mittagsstunde stattdessen mit einer Siesta. Sollte es irgendwelche europäischen Touristen geben, dann schlafen sie in der nächsten Stunde. Um es in Worte zu fassen, die du verstehst: Kein Einkaufen in Antiquitätenläden!“
„Na gut. Also schlafen die Europäer. Aber was, wenn sie von einem weiter entfernten Land kommen und ihre biologischen Uhren noch nicht auf unsere Zeit eingestellt sind. Dann haben sie zur Mittagszeit noch keinen Hunger und wollen stattdessen vielleicht Antiquitäten einkaufen.“
Gina verschränkte ihre Arme. „Lacey“, sagte sie auf eine mütterliche Art. „Du brauchst eine Pause. Du wirst dich noch selbst in den Ruin treiben, wenn du jede Minute jedes Tages innerhalb dieser vier Wände verbringst, egal wie hübsch sie auch dekoriert sein mögen.“
Lacey verzog ihren Mund. Dann stellte sie den Sextanten auf dem Tresen ab und kam in den vorderen Bereich des Ladens. „Du hast recht. Eine Stunde kann doch wirklich nicht schaden, oder?“
Dies waren die Worte, die Lacey schon bald bereuen würde.
KAPITEL DREI
„Ich wollte diesen neuen Teesalon unbedingt ausprobieren“, sagte Gina ausgelassen, als sie und Lacey an der Uferpromenade entlangspazierten. Ihr Hundebegleiter jagte gerade nach einem Artgenossen in der Brandung und wackelte aufgeregt mit seinem Schwanz.
„Warum?“, fragte Lacey. „Was ist so toll daran?“
„Nichts Besonderes“, antwortete Gina. Sie sprach nun etwas leiser. „Ich habe nur gehört, dass der neue Besitzer früher ein Profi-Wrestler war! Ich kann es kaum erwarten, ihn kennenzulernen.“
Lacey konnte sich einfach nicht zurückhalten. Sie ließ ihren Kopf in den Nacken fallen und lachte laut und herzlich darüber, wie unsinnig dieses Gerücht schon wieder war. Aber andererseits war es noch nicht lange her gewesen, dass jeder in Wilfordshire geglaubt hatte, sie wäre eine Mörderin.
„Vielleicht sollten wir dieses Hörensagen eher mit Vorsicht genießen?“, schlug sie Gina vor.
Ihre Freunde gab nur ein „pfff“ von sich und beide brachen in Kichern aus.
Der Strand sah bei dem warmen Wetter besonders einladend aus. Es war noch nicht heiß genug, um sich in die Sonne zu legen oder hinauszupaddeln, aber es flanierten jetzt immer mehr Menschen entlang und kauften Eiscreme von den Eiswägen. Auf dem Weg quatschen die zwei Freundinnen über alles Mögliche und Lacey erzählte Gina über Davids Anruf und die berührende Geschichte des Mannes mit der Ballerina. Sie erreichten den Teesalon.
Er befand sich in einem Gebäude, das einst ein Abstellplatz für Kanus gewesen war, in der perfekten Lage direkt am Wasser. Die ehemaligen Besitzer hatten den Umbau vorgenommen und aus dem alten Schuppen ein relativ schäbiges Café gemacht – Gina hatte Lacey gelernt, dass man es in England als „Spelunke“ bezeichnen würde. Aber die neuen Besitzer hatten das Design enorm verbessert. Sie hatte die Ziegelfassade gereinigt und alle Schlieren aus Möwenkot entfernt, die hier wahrscheinlich schon seit den fünfziger Jahren geklebt hatten. Sie hatten außerhalb eine Tafel aufgestellt, die Bio-Kaffee in der kursiven Schrift eines professionellen Schildmalers ankündigte. Und die ehemalige Holztür war durch einen glänzenden Glaseingang ersetzt worden.
Gina und Lacey gingen darauf zu. Die Tür öffnete sich automatisch, als würde sie die beiden hineinwinken. Sie tauschten einen Blick aus und traten ein.
Das würzige Aroma von frischen Kaffeebohnen begrüßte sie, gefolgt von dem Geruch von Holz, feuchter Erde und Metall. Es war keine Spur mehr von den weißen Fliesen, die bis zur Decke gereicht hatten, von den pinken Vinylnischen und dem Linoleumboden. Jetzt lag das alte Ziegelwerk frei und die ausgeblichenen Bodendielen waren mit einer dunklen Beize lackiert worden. Um den rustikalen Look weiterzuführen, sahen alle Tische und Sessel so aus, als bestünden sie aus den Planken ehemaliger Fischerboote – was den Holzgeruch erklärte – und die Kupferrohre dienten als Abdeckung für die Verkabelung diverser großer Edison-Glühbirnen, die von der Decke herabhingen – was den Metallgeruch erklärte. Das erdige Aroma kam von der Tatsache, dass auf jedem freien Zentimeter ein Kaktus stand.
Gina griff nach Laceys Arm und flüsterte vergnügt: „Oh nein. Es ist… trendig!“
Lacey hatte vor Kurzem bei einer Antiquitätensuche in Shoreditch in London gelernt, dass trendig kein Kompliment war, das man statt dem Wort „stilsicher“ verwenden konnte. Stattdessen lag in dem Ausdruck eine zusätzliche Bedeutung, die mit unseriös, angeberisch und arrogant gleichzusetzen war.
„Ich mag es“, erwiderte Lacey. „Das Design ist gut geworden. Sogar Saskia würde zustimmen.“
„Vorsicht. Du willst doch nicht gepiekst werden“, fügte Gina hinzu und machte eine übertriebene Ausweichbewegung, um einen großen, stacheligen Kaktus zu umgehen.
Lacey schnaubte und ging zum Tresen, der aus polierter Bronze geformt war und auf dem eine passende, alte Kaffeemaschine stand, die sicherlich nur Dekoration war. Entgegen dem, was Gina gehört hatte, stand dahinter kein Mann, der wie ein Wrestler aussah, sondern eine Frau mit einem kurzen, blond gefärbten Bob und einem weißen Tanktop, das ihrer goldfarbenen Haut und ihren dicken Bizepsen schmeichelte.
Gina fing Laceys Blick ein und deutete mit einer Kopfbewegung auf die Muskeln der Frau, als würde sie sagen schau, habe ich es dir doch gesagt.
„Was kann ich Ihnen bringen?“, fragte die Frau in einem der stärksten australischen Akzente, die Lacey jemals gehört hatte.
Bevor Lacey einen Espresso mit Milch bestellen konnte, stieß sie Gina in ihre Seite.
„Sie ist wie Sie!“, verkündete Gina. „Eine Amerikanerin!“
Lacey konnte nicht anders als zu lachen. „Ähm… nein, ist sie nicht.“
„Ich komme aus Australien“, verbesserte die Frau Gina auf freundliche Art.
„Wirklich?“, fragte Gina perplex. „Für mich klingen Sie genauso wie Lacey.“
Die blonde Frau richtete ihre Aufmerksamkeit sofort wieder auf Lacey.
„Lacey?“, wiederholte sie, als hätte sie bereits von ihr gehört. „Sie sind Lacey?“
„Ähm… ja…“, sagte Lacey und war verwundert darüber, dass die Fremde sie zu kennen schien.
„Ihnen gehört der Antiquitätenladen, nicht wahr?“, fügte die Frau hinzu. Sie legte den kleinen Block nieder, den sie die ganze Zeit in der Hand gehalten hatte, und schob sich den Bleistift hinter ihr Ohr. Dann streckte sie ihre Hand aus.
Amüsiert nickte Lacey und schüttelte sie. Die Frau hatte einen festen Griff. Für einen kurzen Moment fragte sich Lacey, ob etwas an dem Wrestling-Gerücht wahr sein könnte.
„Entschuldigung, aber woher kennen Sie mich?“, fragte Lacey, während die Frau ihren Arm kräftig durchschüttelte und ein breites Grinsen aufsetzte.
„Weil mir jeder Bewohner der Stadt, der in mein Lokal kommt und realisiert, dass ich aus dem Ausland komme, sofort von Ihnen erzählt! Darüber, wie Sie ganz alleine aus einem anderen Land hergezogen sind. Und wie Sie Ihren Laden selbst aufgebaut haben. Ich glaube, ganz Wilfordshire hofft darauf, dass wir beste Freunde werden.“
Sie schüttelte Laceys Hand immer noch energisch und als Lacey zu sprechen begann, bebte ihre Stimme.
„Also sind Sie alleine nach Großbritannien gekommen?“
Endlich ließ die Frau ihre Hand los.
„Ja. Ich habe mich geschieden und realisiert, dass eine Scheidung