Schneemännern und Schlitten, und die meisten waren Tier-zeichnungen. Fast alle zeigten das Nationaltier Kanadas, den kanadischen Biber. Das schrille Läuten der Schulglocke zwang Tarik dazu seinen Blick von den Gemälden abzuwenden, und gemeinsam mit seinem Freund mischte er sich unter die Menge an Schülern, die alle fröhlich durcheinander plapperten. So gelangten die beiden in ein großes Klassenzimmer. Alle Schüler des Spanischkurses waren bereits anwesend, manche saßen auf ihren Tischen, zeigten sich gegenseitig Fotos auf ihren Smartphones und kicherten. Andere hockten lässig an ihrem Platz und blätterten noch einmal ihre Schulunterlagen durch. Aber die meisten – und das wunderte Tarik überhaupt nicht – saßen bei Nina Smith und schrieben eilig die Hausaufgaben ab. Typisch Nina. Sie hatte einfach IMMER die Hausaufgaben. Als Tarik sich an seinen Platz in der zweiten Reihe neben Alan setzte, musterten ihn einige Mitschüler argwöhnisch und flüsterten sich Dinge zu. Er wusste, dass es Dinge waren, die mit ihm zu tun hatten, denn er wurde immer wieder schief von der Seite angeschaut. Das war für ihn allerdings nichts Neues; in seiner Klasse war er nur als „der verrückte Tier-Nerd" bekannt und das schon seit der 6. Klasse. Mittlerweile störte ihn das fast gar nicht mehr; er hatte sich mit der Tatsache abgefunden.
„¡Buenos dias!", begrüßte Mr. Moreno die Schüler des Spanischkurses freundlich und gut gelaunt, so wie an jedem anderen Tag auch. Er hatte ein nettes, breites Grinsen im Gesicht und seine grauweißen Haare waren sauber nach hinten gekämmt. Der Lehrer legte seine braune Wildledertasche auf das Pult und verschränkte die Arme hinter dem Rücken.
„Setzt euch", forderte er die Schüler mit einem Kopfnicken auf und wartete, bis alle Gespräche verstummt waren. Seine Augen huschten über die Klasse und er fragte nachdenklich:
„Hatte ich euch vorgestern etwas aufgegeben?“ Dabei kratzte er sich am Kinn. Ein paar Jungs schüttelten den Kopf, als würden sie sich fragen „Was für Hausaufgaben? Das habe ich ja noch nie gehört!" Doch sofort schnellte Ninas Zeigefinger in die Höhe:
„Ja Mr. Moreno, wie hatten im Buch Seite 34. Nummer 5 A) und B) auf", erklärte sie und deutete vielsagend auf ihr Heft, um ihren Worten noch etwas Nachdruck zu verleihen.
„Ach, stimmt ja, danke Nina! Dann schlagt bitte alle umgehend Seite 34 auf, damit wir die Hausaufgabe besprechen können. Dann frage ich heute mal nicht ab", sagte Mr. Moreno gut gelaunt und drehte sich um, um etwas an die Tafel zu schreiben. Alan seufzte erleichtert auf und flüsterte in Tariks Richtung: „Glück gehabt".
Ein paar Schüler zischten „Streber" oder „Schleimer" in Ninas Richtung, aber das ließ sie völlig kalt, sie war sowieso eine Musterschülerin, schrieb fast nur 1er oder 2er, selten war auch eine 3 dabei. Bei Tarik war es auch so. Er schrieb auch ausschließlich Bestnoten, was sein Ansehen nicht gerade verbesserte. Gerade als Tarik sein gelbes Heft aus dem Rucksack holen wollte, um die Hausaufgabenverbesserung mit aufzuschreiben, traf ihn eine Papierkugel im Nacken. Er verdrehte die Augen und tat so, als hätte er es gar nicht gemerkt, aber ein paar Sekunden später traf ihn schon die nächste Kugel. Genervt drehte Tarik sich um und hob den zerknüllten Zettel vom
Boden auf. Als er aufsah, blickte er in das hämisch grinsende Gesicht von Nate. War ja klar. Nate war der beliebteste Junge schlechthin; er wurde von ausnahmslos allen respektiert oder fast schon gefürchtet. Seufzend faltete Tarik den Zettel auf. In krakeliger Schrift stand
Tir-FREAK
auf dem Papier. Tarik musste beinahe grinsen, denn offenbar kannte Nate das Wort „Rechtschreibung“ nicht. Er holte einen Kugelschreiber aus seinem Mäppchen, strich das Wort durch und schrieb:
Es heißt Tier-Freak, du Grammatik-Allergiker!
darunter. Zufrieden faltete er den kleinen Zettel zusammen und warf ihn geschickt nach hinten.
Als es endlich zur Pause klingelte, war Tarik froh, die Schulstunde ohne weitere Zwischenfälle überstanden zu haben. Das sollte aber nicht von Dauer sein, denn als er hinaus auf den Gang lief und den Weg zu seinem Spind einschlug, wurde er von einer kräftigen Hand am Pullover gepackt und nach hinten gezogen. Die Hand gehörte, wie nicht anders zu erwarten, zu Nate. Eine Gruppe von fünf oder sechs anderen Jungs stand neben ihm und sie blickten Tarik höhnisch an. Auf Nates Gesicht erschien ein wutverzerrtes Grinsen und er packte den Zettel aus und wedelte damit hektisch vor Tariks Gesicht herum: „Deine Klugscheißerei kannst du dir sonst wo hin stecken kapiert, du Spinner?", befahl er und schüttelte Tarik, als er nicht antworte: „Ich habe dir eine Frage gestellt! Beantworte sie gefälligst!", brüllte der riesenhafte Junge und es sah fast so aus, als würde er gleich die Beherrschung verlieren. Tarik sammelte allen Mut, den er noch übrig hatte (es war nicht besonders viel) und sah in Nates rotes Gesicht. Dann verschränkte er die Hände und sagte überzeugt:
„Erstens, du hast mir keine Frage gestellt, sondern einen Befehl geäußert. Zweitens war das auf dem Zettel eine Feststellung. Das ist ein Unterschied."
Stille breitete sich auf dem gesamten Flur aus. Tarik blinzelte vorsichtig zur Seite und erhaschte einen Blick auf seine Mitschüler, die einen Kreis um Nate und ihn gebildet hatte. Keiner von ihnen wagte es, etwas zu sagen. Viele starrten Tarik schockiert an. Noch nie hatte jemand so direkt mit Nate gesprochen. Niemand. Dieser holte wortlos aus und schlug Tarik seine Faust mitten ins Gesicht.
„Rede niemals wieder so mit mir! Verstanden du Spinner!?", schrie er aufgebracht und warf Tarik wie ein totes Tier auf den Boden. Dann beugte er sich hinunter uns sagte etwas leiser:
„Das wird ein Nachspiel haben, du Spinner. Ich kriege dich noch!" Seine Schar folgte Nate den Flur entlang und himmelte ihn an wie einen Gott. Tarik spuckte etwas Blut und rieb sich die schmerzende Wange. Dann wanderte seine Hand weiter zu seiner Nase und er zuckte heftig zusammen, als er sie berührte. Fühlte sich gar nicht gut an, hoffentlich war sie nicht gebrochen. Tarik schaffte es, sich aufzusetzen und murmelte:
„Wenn er mal sein Gehirn so gut wie seine Fäuste benutzen könnte“, knurrte Tarik genervt und wollte sich aufsetzen. Dann stöhnte er kurz vor Schmerzen auf, als er seinen Arm belasten wollte. Bei seinem Sturz musste er auf ihn gefallen sein.
„Tarik! Bist du wahnsinnig! Dich so mit Nate anzulegen… Hast du dir was getan?", fragte Alan bestürzt und eilte zu seinem Freund, der noch immer am Boden saß. Tarik stützte sich auf seine rechte, unverletzte Hand und erhob sich wieder.
„Das werde ich ihm heimzahlen, selbst wenn ich mir dafür Flügel wachsen lassen muss!", knurrte er und konnte ja nicht ahnen, wie viel Wahrheit in diesem Satz steckte.
Love hurts
(Nazareth, 1976)
„Oh Mann, kann mal jemand bitte denjenigen, der die Schule erfunden hat, fragen, ob der total hobbylos war?", seufzte Clementine niedergeschlagen und ließ sich auf das große pastellfarbene Sofa fallen, das im Eingangsbereich der Villa stand. Auch hier reihten sich viele „Kunstwerke" aneinander, wobei Clementine diese immer als „Aus Versehen entstandene Kunst" bezeichnete, da sie selbst nicht viel davon hielt. Für sie war das nur Platzverschwendung, mehr nicht. Doch ihr Stiefvater sammelte leidenschaftlich gerne diese Bilder, die Clementines Ansicht nach nur aus wirren Strichen bestanden; er erstand diese meistens auf Auktionen.
„Schule ist so scheiße und unnötig.", murmelte Clementine zu sich selbst und erhob sich wieder. Nun stand sie im menschenleeren Eingangsbereich und sah sich um. Heute war sie ganz allein zuhause; ihre Mutter hatte ein Fotoshooting und ihr Stiefvater war mal wieder bei einem wichtigen Drehtag als Regisseur. Also im Klartext hieß das, sie hatte die Riesenvilla für sich. Das war auch gut so, denn schon seit heute früh fühlte sich das Mädchen nicht so wohl und war ganz froh und dankbar über ein bisschen Ruhe. Sie hatte ein merkwürdiges Gefühl in der Magengegend, das am Morgen ganz plötzlich aufgetaucht war und seitdem nicht besser wurde. Ruhig schlenderte sie in die großzügige Küche der Familie und warf einen forschen Blick in den Kühlschrank. Auch in diesem Raum war sie heute allein, denn die Angestellten hatten frei bekommen. Angewidert schloss sie die Kühlschranktür wieder, denn darin befand sich nur ekelhaftes veganes Zeug, Smoothies und Gemüse – Clementines Mutter legte besonders großen Wert auf ausgewogene und gesunde Ernährung. So ein Öko-Freak, dachte Clementine nur