Ulli stand auf und stützte sich mit der Hand schwer auf Paules Schulter ab. Nur so konnte sie verhindern, dass Paule wütend hochfuhr. „Kommissar Paulsen ist ein erfahrener Ermittler, der sehr genau weiß, wie er sich zu verhalten hat“, kam sie Paules Erwiderung zuvor.
***
Ulli und Paule hatten beschlossen, mit Ullis Citroën zum Friedhof Diebsteich zu fahren. Die Presse würde sie im Privatauto nicht auf Anhieb als Ermittler identifizieren. Allerdings war Paule seit dem Mord an dem Unternehmer Ludwig Hansen, dem unglücklichen Selbstmord von Kevin Schultz und der Prügelei mit einem Journalisten bei den Mitarbeitern der Hamburger Aktuellen bekannt wie ein bunter Hund.
Ulli parkte den Wagen in der Schleswiger Straße. Am brasilianischen Kulturzentrum vorbei gingen sie die kurze Strecke zur Friedhofskapelle. „Von dieser Seite sieht die Kapelle wie ein Fabrikgebäude aus“, meinte Paule. Er war immer noch aufgebracht und deutete auf die Polizeiabsperrung. „Der Seidel hätte einmal überlegen sollen, ob er mit dem Polizeiaufgebot Wilhelm Tieck nicht zu viel Aufmerksamkeit zukommen lässt. Ich sehe schon die Schlagzeile morgen in der Aktuellen: ,Begräbnis eines Mörders unter höchsten Sicherheitsvorkehrungen‘. Ich hätte überhaupt keine Polizei rausgeschickt. Unsere Schutzpolizei hat Besseres zu tun. Diese Pressefritzen bekommen so oder so, was sie wollen.“ Paule nickte zu einem hellen Kastenwagen mit dem Logo der Hamburger Aktuellen: „Dann warten sie einfach vor dem Friedhof.“
Die Kommissare hatten eben die schlichte Eingangspforte der Kapelle an der Seite des zweistöckigen Backsteinbaus erreicht, als sich die Doppeltür öffnete und Orgelmusik erklang. Die Urne wurde von einem schwarzgekleideten Mitarbeiter der Friedhofsverwaltung aus der Kapelle getragen. Ein katholischer Priester folgte. Dahinter ging Frau Burger. Ulli vermutete, dass es ihre Kinder waren, die die Frau begleiteten. Dann kam die Trauergemeinde. Sie wunderte sich, dass so viele Menschen zur Beisetzung gekommen waren. Bisher hatte sie angenommen, der Tod von Wilhelm Tieck ginge kaum einem Menschen nahe. Dann entdeckte sie Gerda Kömen in dem Trauerzug, umgeben von anderen Frauen, die dem Priester und der Familie auf den breiten Hauptweg folgten. Gertrud Burger und Wilhelm Tieck waren Teil der katholischen Gemeinde, erinnerte sich Ulli, vermutlich war es für viele Gläubige selbstverständlich, einem Gemeindemitglied das letzte Geleit zu geben, unabhängig davon, was sie von ihm zu Lebzeiten gehalten hatten.
Ulli und Paule schlossen sich dem Trauerzug an. Der Friedhof war weitläufig, und die Grabstätten der Katholiken lagen im nördlichen Teil. Der Trauerzug musste den gesamten Friedhof überqueren. Der Weg zum Grab schien fast wie ein entspannter Spaziergang durch einen Park, wären da nicht der leichte Nieselregen und die eintönige Litanei des Priesters gewesen.
Die Zeremonie am Grab verfolgten Paule und Ulli aus der Ferne.
„Heinz Kömen scheint nicht dabei zu sein“, flüstere Paule und deutete auf Gerda Kömen. Ulli wandte sich suchend um. Die vielen Bäume und Sträucher machten das Gelände unübersichtlich, aber sie hätte wetten können, Heinz Kömen war auch da. Nur eben nicht hier bei dieser Beerdigung, sondern am Grab von Karin Kömen. Was er seiner Tochter wohl von diesem Tag erzählen würde?
Paule stieß Ulli an und deutete auf einen Nebenweg: „Da drüben steht Walter. Ich dachte mir, dass er kommt. Dass ihm der Tieck durch die Lappen ging, hat ihm damals sehr zu schaffen gemacht.“
Paule reckte den Kopf, um die Person, die neben Walter stand, zu erkennen.
„Aber wieso ist Eisler da? Er hat überhaupt nichts mit der Sache zu tun. Ob der Seidel ihn als Aufpasser mitgeschickt hat? Eisler sollte sich langsam überlegen, auf wessen Seite er steht.“
Ulli beobachtete, wie Gerda Kömen zum Grab ging und Frau Burger ihr Beileid bekundete. Der Händedruck der beiden Frauen war ungewöhnlich lang. Während die Trauergäste an dem Grab vorbei gingen, um die Urne ein letztes Mal zu segnen, gesellten sich Ulli und Paule zu Walter und Sebastian. Sebastian war vor einem Monument stehen geblieben, um das sich ältere Grabstätten gruppierten. Er schien die Inschrift zu studieren. Als Ulli zu ihm trat, las er sie laut vor: „Es ist ein heiliger und heilsamer Gedanke, für die Verstorbenen zu beten, damit sie von ihren Sünden erlöst werden.“
Er beugte sich näher zu Ulli: „Glaubst du an eine Vergebung der Sünden nach dem Tod? Einfach so? Durch ein paar Gebete? Würdest du für Wilhelm Tieck um die Vergebung seiner Sünden bitten? Wünschst du ihm nicht eher, er solle für das, was er Karin Kömen angetan hat, ewig in der Hölle schmoren?“
Ulli nahm den vertrauten Geruch seines dezenten Parfüms wahr und überlegte gerade, dass es außer Sebastian nur wenige Männer gab, die sie buchstäblich ,riechen‘ konnte. Sie wollte gerade Sebastians Frage beantworten, als Frau Burger auf sie zutrat: „Danke, dass Sie sich Zeit genommen haben.“
Die alte Frau zog Ulli zu einer Parkbank. Obwohl die Bank nass vom Regen war, ließ sich Frau Burger schwerfällig darauf nieder. „Es war ein langer Tag.“
Sie deutete auf das blumengeschmückte Rasenstück, in dem die Urne versenkt worden war. „Willi wird ein schönes Rasengrab bekommen. Und dort wird auch noch Platz für mich sein. Dann sind wir beide nicht alleine.“
Gertrud Burger seufzte. Ihr Blick ging hinüber zu den gemauerten Gruften der Roma- und Sinti-Gräber. „Eigentlich wollte er nie neben die Zigeuner. Aber es ist nun einmal der einzige Friedhof in der Nähe. Ich finde es schön, wie diese einfachen Menschen trauern. So viele Kerzen und Blumen und jedes Jahr zu den großen Festen kommt die ganze Familie am Grab zusammen.“
Sie sah zum Grab ihres Bruders. Ihre beiden Kinder standen dort und schauten unschlüssig zu ihrer Mutter herüber. „Bei uns kamen noch nicht einmal die Ehepartner. Da ist kein Zusammenhalt mehr in der Familie.“
Ulli folgte ihrem Blick und nickte Frau Burgers Kindern zu. „Eigentlich sind wir gekommen, um mit Ihren Kindern zu sprechen. Werden sie nachher zu Hause sein?“
Die Frau schüttelte den Kopf. „Dann reden Sie am besten gleich mit ihnen. Sie werden direkt vom Friedhof zurück nach Berlin fahren. Sie mochten Willi nicht. Sie werfen ihm vor, er habe sie aus ihrer Heimat vertrieben.“
Frau Burger schaute wieder zu ihren Kindern. „Sie haben es nicht leicht gehabt durch die Sache mit Willi. Jetzt wollen sie, dass ich hier alles verkaufe und zu ihnen nach Berlin ziehe. Aber was soll ich in der fremden Stadt? Ich weiß einfach nicht, wie ich entscheiden soll.“
Nachdem Gertrud Burger sich von der Bank erhoben hatte, stützte sie sich schwer auf Ullis Arm. Die beiden gingen zu Frau Burgers Kindern hinüber. Sebastian hatte sich ihnen angeschlossen. Noch ehe die Tochter Ullis Begrüßung erwidern konnte, trat der Sohn nach vorne, seine Stimme war laut und es schien ihn nicht zu kümmern, dass die umstehenden Leute neugierig die Köpfe nach der kleinen Gruppe drehten.
„Unsere Mutter hat uns schon erzählt, dass die Polizei mit uns sprechen will. Auf der Fahrt von Berlin haben wir darüber nachgedacht, was wir Ihnen erzählen könnten. Wir wissen nichts über Willi. Wir haben ihn seit Jahren nicht mehr gesprochen oder gesehen. Und wenn Sie uns fragen, dann müssen Sie den, der es getan hat, auch nicht bestrafen. Das war schon lange fällig.“
Ulli beobachtete aus den Augenwinkeln, wie Frau Burger zusammenzuckte. Sie verzichtete darauf, den Sohn für diese Bemerkung zurechtzuweisen. Einen offenen Streit am Grab ihres Bruders wollte sie der alten Frau ersparen. Stattdessen bemühte sie sich, die Befragung sachlich zu Ende zu führen.
„Also die beiden beten bestimmt nicht für die Vergebung der Sünden ihres Onkels“, meinte Sebastian, als sie nach der Befragung zu Walter und Paule zurückkehrten.
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