Ein Tropfen vom Glück. Antoine Laurain. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Antoine Laurain
Издательство: Readbox publishing GmbH
Серия:
Жанр произведения: Эротическая литература
Год издания: 0
isbn: 9783455005417
Скачать книгу
ich, Azar Raffi, laufe in meinem Laden im Kreis, ich habe genug, ich gehe.« Zu dem Laden gehörte ein großes Studio im sechsten Stock des Hauses, ein Zusammenschluss von mehreren Dienstbotenzimmern, das Monsieur Raffi als Lager benutzte. Magalie renovierte es und machte daraus ihre Wohnung.

      Der Einzug der Restauratorin war im Haus nicht unbemerkt geblieben. Magalie übte zwar einen herkömmlichen Beruf mit einem Bezug zu Kunst und Museen aus, doch ihre Erscheinung ließ eher an Gothic Rock und die Filme von Tim Burton denken: blasser Teint, blutrote Lippen und mehrere Piercings im linken Ohr. Ihre Haare, die sie oft zu zwei hohen Zöpfen band, waren rabenschwarz gefärbt. Ihre Kleidung bestand hauptsächlich aus enganliegenden, mit Totenköpfen oder Katzen verzierten Teilen, und sie lief meistens auf unwahrscheinlich hohen Schuhen mit chromglänzenden Schnallen herum. Die alten Damen im Haus waren zunächst etwas erschrocken, hatten sie dann jedoch schnell ins Herz geschlossen, als sie ihnen angeboten hatte, für sie einzukaufen, ihre Briefe zur Post zu tragen, ihre Pflanzen zu gießen, wenn sie nicht da waren, oder auch Katzen, Hunde und Kanarienvögel zu füttern. Sie beklagten höchstens hinter vorgehaltener Hand, dass »ein so hübsches Mädchen sich so verschandelt«.

      »Sagen Sie, Monsieur Larnaudie, darf ich Sie etwas fragen?«, hatte sie eines Tages in der Eingangshalle den Vorsitzenden des Verwaltungsbeirats gefragt.

      »Ich bitte darum, wenn es das Leben in der Nummer 18 betrifft, sollte es in meinen Kompetenzbereich fallen«, hatte dieser geantwortet.

      »Es betrifft das Leben in der Nummer 18, wie Sie sagen …« Magalie hatte auf die beschlagenen Spitzen ihrer Stiefel geschaut, ehe sie wieder zu ihm aufblickte: »Stimmt es, dass mich im Haus alle Abby nennen?«

      Zur Zeit ihres Einzugs schlug die Serie Navy CIS am Freitagabend alle Einschaltquotenrekorde. Eine junge Wissenschaftlerin der Kriminalpolizei, hochbegabt und exzentrisch, radikal auf Gothic gestylt, gehörte zu den Hauptfiguren: Abby. Sie trug einen weißen Kittel, brachte ihre Zeit im Labor zu, hörte Techno-Musik und untersuchte Fingerabdrücke, Mikrofasern, iPhone-Platinen oder hochkomplexe DNS-Sequenzen, um ihren Kollegen bei den Ermittlungen zu helfen. Auch Magalie hielt sich von morgens bis abends in ihrer Werkstatt auf, hörte Musik, die niemand kannte, und reparierte mit wissenschaftlicher Genauigkeit unglaublich empfindliche Gegenstände. Die sowohl äußerliche als auch berufliche Ähnlichkeit war den anderen Eigentümern und Mietern des Hauses nicht entgangen, und sie hatten sie alsbald mit dem Vornamen der Figur bedacht.

      An jenem Morgen hatte Hubert Larnaudie unbeholfen zu einer Antwort angesetzt: »Hören Sie, Abby, ich bin nicht über alle privaten Gepflogenheiten des Hauses im Bilde …«, um sofort abzubrechen und sich zu entschuldigen. »Dieser Spitzname ist keinesfalls als Spott gemeint, Mademoiselle Lecœur«, hatte er ernst erklärt. »Ich glaube, im Gegenteil, es ist ein Zeichen großer Zuneigung. Die Damen Lacaze und Baulieue, unsere Hausältesten, sind voll des Lobes über Sie, Sie haben diesen verschlafenen alten Laden neu belebt und außerdem Madame Da Silva erobert, unsere Concierge – was gewiss nicht einfach ist. Alle im Haus mögen Sie sehr, das sollen Sie wissen.«

      Es entstand eine Pause, Magalie hatte genickt, und Hubert war es vorgekommen, als glänzten ihre Augen plötzlich etwas zu sehr. »Danke«, hatte sie gemurmelt. »Einen schönen Tag, Monsieur Larnaudie.«

      Wenn ihr Erfolg bei den alten Damen auch unzweifelhaft war, so war es mit den Männern eine andere Geschichte. Der letzte war gegangen und hatte Magalie in einer Einsamkeit zurückgelassen, die lediglich mit kaputten Gegenständen bevölkert war, welche ihre Feenhände in ihren ursprünglichen Zustand zurückversetzen würden, doch sie war weit davon entfernt, diesen Zaubertrick auf ihr eigenes Leben anwenden zu können, das ihr seit kurzem vorkam wie ein gezinktes Puzzle, dessen Teile sich nicht zusammenfügen ließen.

      Auf dem Tisch zitterten die Fragmente der Statue kaum merklich. Seit einer Woche war der Tunnelbohrer, der die Verlängerung der Métrolinie 14, genannt »Méteor«, aushob, auf der Höhe der Rue Edgar-Charellier angekommen. Die riesige Maschine mit ihrem Bohrkopf arbeitete sich zwanzig Meter unter der Erde voran, und seit zwei Tagen musste sie ganz in der Nähe der Nummer 18 sein, denn wenn man darauf achtete, konnte man ihre Vibrationen spüren. Die Fragmente beruhigten sich wieder, als die Klingel ertönte. »Ich komme!«, rief Magalie.

      Sie legte eine letzte Scherbe auf den richtigen Haufen und ging dann zur Tür, um sie einem etwa dreißigjährigen Mann zu öffnen, der einen Strauß Veilchen in der Hand hielt.

      »Ist es schon Zeit?«, fragte Magalie, bevor ihr Blick auf die Blumen fiel.

      »Die habe ich unterwegs gefunden, sie sind für dich«, sagte Julien.

      »Danke. Komm rein, ich muss schnell eine Vase für sie finden.« Magalie griff nach einem Opalglasgefäß mit angeschlagenem Rand, das ein Etikett trug. »Warst du schon mal auf einer Eigentümerversammlung?«, fragte sie, während sie Wasser in die Vase füllte.

      »Nein, noch nie, ich war bisher immer Mieter«, antwortete Julien. »Du wirst sehen, es dauert ewig, ist aber manchmal auch lustig. Monsieur Larnaudie kümmert sich um alles, dieses Haus ist sein ganzes Leben. Ich wette, er wird uns von den Türen der Kelleröffnung erzählen, die seit drei Tagen kaputt sind, das verfolgt ihn. So, das ist sehr hübsch, danke, Julien«, sagte sie und trat einen Schritt zurück, um den kleinen Strauß auf ihrem Tisch zu betrachten.

      »Bitte, es sollte … dir eine Freude machen«, stammelte Julien.

      »Hat geklappt«, antwortete sie lächelnd. »Gehen wir?«

      Während sie Seite an Seite die Straße entlanggingen, betrachtete Julien Magalie verstohlen von der Seite und bekam kein Wort von dem mit, was sie ihm über den Ablauf der jährlichen Eigentümerversammlungen erzählte. Es war Liebe auf den ersten Blick gewesen. Julien erinnerte sich an die ersten Minuten ihrer Begegnung, vier Monate zuvor, als hätte sie eben erst stattgefunden. Zu der 35-Quadratmeter-Wohnung, die er gerade mit einem Kredit über 20 Jahre zu 1,6 % Zinsen gekauft hatte, gehörte ein kleiner Keller, der neben dem großen des Restaurierungsladens lag. Julien war hinuntergegangen, um ein paar Sachen dort abzustellen. Der Keller des Gebäudes war der einzige Ort, an dem sich seit der Erbauung unter Napoléon III. nichts geändert hatte. Die nummerierten Holztüren, die man mit großen Eisenschlüsseln aufschloss, der mit abgetretenen Teppichen bedeckte gestampfte Lehmboden, die Inschriften auf den Wänden, sorgfältig hingepinselt von Malern, die noch vor Anbruch der Vierten Republik das Zeitliche gesegnet haben mussten (»Kohle – Vorrat«, »Kellertür zur Straße«, »Gemeinschaftskeller«, »Maschinenraum Fahrstuhl«) – das alles gemahnte an eine versunkene Zeit, aus der dieser Pariser Keller das einzige Überbleibsel zu sein schien.

      »Guten Tag, sind Sie der neue Eigentümer im Erdgeschoss? Ich bin Magalie Lecœur, aber man nennt mich im Haus wegen einer dämlichen amerikanischen Serie Abby.« Und da war die Welt ins Wanken geraten. Die Augen waren zu grün, der Mund zu rot, das Lächeln zu breit, die Haut zu perlmuttschimmernd. Magalie hatte ihre Hand in seine geschoben, um sie zu schütteln, und bei diesem Hautkontakt war in Juliens Kopf etwas mit der Gewalt einer mehrere Megatonnen schweren Bombe explodiert. Es war ihm vorgekommen, als hätte sich vor seinen Augen die gesichtslose Frau materialisiert, die seit seiner Jugend durch all seine Träume geisterte.

      Julien war mit einer unbezähmbaren Schüchternheit geschlagen, wenn es darum ging, einem Mädchen den Hof zu machen, und hatte nur dann etwas Selbstvertrauen, wenn er einen Shaker in der Hand und die weiße Barmannschürze um die Hüften hatte. In der Hotelfachschule hatte er schnell gemerkt, dass der Tischservice nicht seine Sache war. Sätze wie: »Madame, Monsieur, hier die Ente vom Grill mit Morchelravioli an einer weißen Pfeffersauce. Guten Appetit«, würden seine Abende nicht lange begleiten. Er stammte aus dem Beaujolais und war im Respekt vor guten Weinen aufgewachsen. Wenn seine Eltern die Weinberge ihrer Vorfahren auch verlassen hatten, um sich in der Stadt niederzulassen, waren sie doch der Tradition treu geblieben, bei Festen und Geburtstagen einen guten Tropfen zu trinken.

      Während eines Praktikums in einem Vier-Sterne-Lokal in der Provinz fiel sein Blick eines Tages auf die frisch renovierte Bar. Die Flaschen standen zu Dutzenden aufgereiht auf den Regalen, geschickt zur Geltung gebracht durch das farbige Licht der LED-Leuchten. Der Anblick hatte etwas Sanftes, Beruhigendes, das mit diesem Licht zu tun hatte und mit den