„Ach Kindchen, du weißt doch, wie es ist, wenn du als Weib in die Welt geworfen bist. Du musst dich fügen, arbeiten und gebären. Da ist das Los der Fürstin nicht viel anders als dasjenige ihrer Dienerin. Ich habe es dir oft gesagt.“
„Ja, das hast du. Aber mein Vater Ebroin hat die Reiche der Franken wieder zusammengeführt und die Herrschaft in seinen Händen gehalten.“
„Wofür ihn die Feinde auch erschlagen haben. Vergiss das nicht. Jetzt herrscht der Arnulfinger. Und Pippin hat dich gewiss nur übersehen, weil du hier fernab seines Blickes lebst.“
„Du vergisst deine Stellung! Mein Mann ist noch immer Herzog und ein Verwandter des Königs.“
„Liebes, mach doch die Augen auf. Theuderich ist nur König, weil er der nachgeborene Merowinger ist. Man nennt ihn so, aber er kann nicht herrschen. Pippin ist es, der herrscht. Deines Vaters Geschlecht und auch die Königslinie des Geschlechts deines Fürstgemahls haben die Macht im Reich verloren. Ihr müsst euch beide ruhig verhalten, um der Aufmerksamkeit des Mächtigen zu entgehen.“
Gailana drückte das Kreuz durch, straffte ihre Haltung. „Denk was du willst, ich bin die Tochter des Ebroin. Und mein Gatte Gosbert steht der Königswürde näher als irgendein Arnulfinger oder Pippinide, oder wie die sich auch sonst noch nennen werden.“
Noch bevor der Satz beendet war, schoss die kleine Immina durch den Raum und verbarg sich zielsicher unter den Rockschößen Bertradas, gejagt von ihrem großen Bruder Hetan. Dieser wandte sich empört an seine Mutter.
„Die kleine Eiterbeule hat sich in der Küche einfach auch meine Schüssel mit dem Fleischeintopf für heute unter den Nagel gerissen.“
„Gar nicht wahr! Er wollte mir meine wegnehmen“, kam es unter dem Stoff der alten Dienerin hervor.
„Ruhe“, schrie die Fürstin dazwischen, „seid ruhig. Verschwindet! Ich muss mir die Haare machen.“
Bertrada nahm die Kinder zu beiden Seiten energisch an der Hand und zog sie aus der Kammer hinaus.
2
„So hab doch ein Einsehen, Bruder Kilian. Mich schmerzen die Füße, ich muss rasten.“ Der etwas untersetzte, schwer atmende Totnan ließ sich auf einem der großen Findlinge nieder, wie sie im trockenen Gras dieser Hochebene überall aus der Erde heraustraten, ließ auch seinen knorrigen Wanderstab zu Boden fallen und rieb sich die nackten, wunden Füße.
„Ich vermag keinen Schritt mehr zu tun. Lasst uns doch für heute rasch den Platz für ein Lager suchen und ein wärmendes Feuer anfachen. Hier oben friert der Wind einem noch das Gemächt ein.“
Kilian, der mit entschlossenen Schritten zu dem zurückbleibenden Gefährten getreten war, traktierte diesen mit seinem Stab.
„Nicht schon wieder, du kleingläubiger Taugenichts. Steh schon auf und schreite aus. Lass es nun aber gefällige Schritte werden, die Kolonat und mir zu folgen vermögen. Nimm dir ein Beispiel an ihm. Er trägt schwerer als du und beklagt sich nicht.“
Totnan hob seinen Wanderstock auf und stemmte sich daran auf die Beine. „Das ist ja gar nicht wahr. Er trägt an seinem Körper nur das halbe Gewicht.“
Kolonat grinste und gab sich besonders leichtfüßig. „Das liegt daran, dass ich nur die Hälfte von dem esse, was du in dich hineinschlingst, und auch den geistigen Getränken nicht so zuspreche.“
„Na warte, dich werd‘ ich lehren …“
„Hört auf damit, Brüder“, fuhr Kilian energisch zwischen die Neckerei, „nutzt euren Atem, um euch die Psalmen zu lehren. Ihr vergesst sie immer wieder.“
„Ja Bruder“, erwiderten die Jüngeren in kleinlauter Eintracht, denn solcherlei Momente hatten sie auf ihrer langen Wanderung schon viele erlebt, „Psalm 42. Wie der Hirsch lechzt nach frischem Wasser, so lechzt meine Seele, Gott, nach dir …“
„Im Lateinischen sollt ihr deklamieren, im Lateinischen!“
„Quemadmodum desiderat cervus ad fontes aquarum ita desiderat anima mea ad te Deus …”
So schritten Totnan und Kolonat im monotonen Rhythmus ihrer Rezitationen über das trockene, steindurchsetzte Gras einher, zwischen dem nur vereinzelt bereits frisch aufkeimenden Grün, das den herannahenden Frühling erahnen ließ. Kilian, der deutlich ältere Anführer ihrer kleinen Gruppe schwieg unterdessen und studierte dafür mit scharfem Blick ein ums andere Mal die Markierungen der Landschaft.
Es waren nun schon viele Monate vergangen, seit sie gemeinsam aus ihrem irischen Heimatkloster Aghagower aufgebrochen waren. Der Bischof selbst hatte ihnen in der Nachfolge des heiligen Patrick den Auftrag zur heiligen Mission erteilt. Nachdem sie zunächst beinahe die ganze irische Insel durchwandert hatten, setzten sie mit einem Schiff in die Lande der Angelsachsen über und von dort in einer stürmischen Seefahrt wiederum auf das Festland nach Neustrien in das Reich der fränkischen Herrscher. Während dieser Zeit hatten sie bescheiden von der Mildtätigkeit der Klöster oder christlicher Herren gelebt, bei denen sie Aufnahme fanden. Kilian führte einen Missionsbrief mit sich, welcher ihnen die Türen der Gastfreundschaft geöffnet hatte. So war die Reise zwar beschwerlich gewesen, aber nie hatten sie Not leiden müssen. Auch nicht im Reich der Franken. Überall fanden sie ein Dach über dem Kopf und eines Tages waren sie gar von einem sehr feinen Edlen empfangen worden, über den Totnan und Kolonat nur hörten, dass er zwar kein König sei, aber doch der mächtigste Mann der irdischen Welt. Mit diesem Pippin1 hatte Kilian sich allein und mehrere Male besprochen.
Schließlich wanderten sie weiter nach Osten. Ihr Ziel sei nun die Mission in Austrasien hatte Kilian gesagt. Anfangs war es wie zuvor, sie fanden gütige Aufnahme in Klöstern oder bei freundlichen Herren ihres Glaubens. Dann aber wurden die Aufnahme und die Güte seltener und hörten schließlich zur Gänze auf. Immer weiter in Richtung Osten. Das Land ihrer Wanderung wurde mehr und mehr altgläubig und rauer. Beschwernis um Beschwernis stellte sich ein, bis sie gar anfingen Hunger zu leiden und insbesondere Totnan darunter litt. Kilian hingegen, ihr geistiger wie auch weltlicher Anführer, zeigte weder äußerlich noch innerlich die geringsten Spuren der Verwahrlosung, worüber seine Begleiter von Tag zu Tag mehr und mehr in Erstaunen gerieten. Ihre Kleidung verschliss, ihre Körper wiesen Blasen und Schrammen des ewigen Wanderns auf, ja sie hatten längst auch schon begonnen zu stinken. Nur Kilian sah noch immer aus wie am Tag des Beginns ihrer Mission. Fein, ordentlich, sauber, rasiert, frisch und wohlriechend. Er war den jungen Männern in seiner Begleitung während des Weges ihrer Reise ein wenig unheimlich geworden.
Totnan und Kolonat kannten sich schon, seit sie gerade einmal heranwachsende Knaben gewesen waren. Beide waren sie Nachgeborene von Viehhirten aus benachbarten Dörfern in der unmittelbaren Umgebung des Klosters Aghagower. Das Leben der Menschen ihrer Heimat war ein hartes, arbeitsames, entbehrungsreiches, aber doch ebenso auch ein gottgefälliges und gütiges. Die Landschaft und ihre Gaben ein Abbild des Garten Eden, wenn nicht gar der Ort des einstigen Paradieses selbst. Das Auskommen der Väter reichte für ein Erbe an mehrere Söhne nicht aus. Deshalb war es ein großes Glück gewesen, dass sie in dem altehrwürdigen, von dem heiligen Patricius selbst gegründeten Kloster Aufnahme gefunden hatten.
Kilian hingegen wies eine andere Geschichte auf. Ein ganz Edler soll er gewesen sein, hatten Totnan und Kolonat gehört. Vor seinem Eintritt in die Gemeinschaft des Ordens. Angeblich sei ihm fern ihrer Heimat und des Klosters Herrschaft und Macht bestimmt gewesen, bevor er sich in die Frau eines anderen verliebt habe. Dieser soll dagegen Klage beim Bischof geführt haben und dafür von Kilian erschlagen worden sein. Kilian habe seine Tat sogleich bitter bereut und die Verführung durch das Weib als verderblichen Grund seines Handelns genannt. Daraufhin habe der Bischof ihn für immer in die Ferne verbannt und zur Reue ein bußfertiges Leben aufgegeben, das Kilian wiederum versprach. Wahrheit oder Legende, die Begleiter des mysteriösen Mannes wussten es nicht. Kilian selbst hüllte seine Vergangenheit auch nach vielen Monaten