Möglicherweise gehört auch dazu, dass im Urzustand der Menschheit die Aggressivität nur langsam abklingen konnte, weil andernfalls die ältere, aggressivere Generation die jüngere, allzu friedliche verdrängt hätte. Die Aggressivität kann in der nächsten Generation offenbar nur so weit absinken, dass sie ausreicht, der älteren Generation Widerstand zu leisten.
Eltern mit den oben beschriebenen „Erziehungs“-Methoden waren in den Nachkriegsjahrzehnten der Normalfall. Die erste Generation, die sich dagegen wehrte, waren die Achtundsechziger, die den „Mief der Fünfziger Jahre“ beseitigen und ein anderes Leben führen wollten. Seitdem ist Gewalt in unserem Zusammenleben und speziell in unserer Kinder-„Erziehung“ kontinuierlich zurückgegangen. Da es in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg wenige neue Kriegstraumatisierungen gibt, „Erziehung“ immer weniger gewalttätig ist und Kinder mit jeder Generation tendenziell mehr Liebe und Geborgenheit und weniger Beeinträchtigungen erfahren, geht die Aggressivität bei uns zurück. Im Westen hat sicherlich auch das Wirtschaftswunder mit den beständig steigenden Konsummöglichkeiten zur Entspannung der Situation beigetragen.
Dennoch wird es noch Jahrzehnte dauern, bis wir einen allgemein offenen, friedlichen und toleranten Umgang miteinander haben und wir gelernt haben, auf Aggressivität und Abgrenzung zu verzichten. In vielen Bereichen der Berufswelt ist derzeit eine offene Begegnung von Menschen noch nicht möglich, und es überwiegen Hierarchie, Ängste und Grobheiten. Wie lange wird es dauern, bis die Folgen des Kriegsleids verdaut und verarbeitet sind?
Aggressivität ist ein Mittel zum Überleben, aber auch zur Entwicklung
Betrachtet man die Auswirkungen von Aggressivität und Friedfertigkeit bei zwei benachbarten steinzeitlichen menschlichen Clans, so stellt man fest, dass Aggressivität automatisch zu Expansion, Entdeckungen, Erfindungen und Weiterentwicklung führt. Der aggressivere Clan wird den friedfertigeren zurückdrängen und sich so Lebensraum aneignen. Einerseits fördert die Rastlosigkeit, die untrennbar zur Aggressivität gehört, neue Handlungsweisen, andererseits birgt sie aber auch die Gefahr des Scheiterns. Für die Arterhaltung ist sie daher nur in Krisensituationen angebracht.
Friedfertigkeit ist von der Evolution gewünscht, solange die Lebensbedingungen für die Mehrheit ausreichend gut sind. Wird der Lebensraum knapp, so setzen sich im Sinne der Arterhaltung die Aggressiveren durch. Darüber hinaus scheint Aggressivität ganz allgemein der Motor zu sein, der angeworfen wird, wenn Veränderung benötigt wird – nicht nur, um den verfügbaren Platz optimal auszunutzen, sondern auch, um weitere Veränderungen anzustoßen. Aggressivität ist stärker mit Innovation verbunden als Friedfertigkeit. Wohlstand und Friedfertigkeit führen zu Zufriedenheit und machen träge. Unzufriedenheit und Leidensdruck machen aggressiv und drängen zur Tat. Man kann zwar auch aus Neugier kreativ und innovativ werden, aber Unzufriedenheit ist der stärkere, weil kontinuierlichere Antrieb. Wut hat den Sinn, Kräfte zu mobilisieren. Wenn ich wütend bin, bin ich entschlossener, geradliniger, verfolge mein Ziel ernsthafter und lasse mich weniger leicht vom Weg abbringen.
In bestimmten Situationen stellt die Evolution offenbar den Nutzen der Aggressivität zur Arterhaltung über die negativen Folgen für Einzelne. In unserer Gesellschaft wie auch in archaischen Umgebungen führt aggressive Konkurrenz zu Lösungen, die sonst nicht gefunden würden. Dieser recht grobe Mechanismus der Lösungsfindung lässt Schwächere auf der Strecke und geht zu Lasten der eigenen Gesundheit und Lebensqualität.
Aggressivität und Friedfertigkeit – Schimpansen und Bonobos
Nördlich des Kongo-Flusses leben Schimpansen, südlich davon leben Zwergschimpansen, sogenannte Bonobos. Beide können den Fluss nicht überwinden. Sie waren früher eine Art und haben sich erst nach der Abspaltung vom Menschen auseinander entwickelt. Schimpansen sind aggressiver, reizbarer und gewalttätiger, Bonobos sind friedfertiger. Wissenschaftler sehen die Ursache hierfür in unterschiedlichen Lebensbedingungen. Die Heimat der Bonobos südlich des Kongoflusses bietet mehr Nahrung.
Bonobos haben kein Patriarchat entwickelt. Sie sind geselliger, Männchen knüpfen im Gegensatz zu Schimpansen engere Beziehungen zu ihren Weibchen.226 „Der Urwald im Süden des Kongobeckens ist reichhaltiger, sodass die Bonobos nicht um jeden Bissen kämpfen müssen. Sie leben in größeren, stabilen Gemeinschaften, was die Bildung von Frauengruppen begünstige. ‚Weniger aggressive Männchen könnten gegenüber aggressiven Artgenossen einen Vorteil gehabt haben’, sagt Hare [Brian Hare ist Professor für evolutionäre Anthropologie an der Duke University in North Carolina], zum Beispiel indem sie Beziehungen zu hochrangigen Müttern pflegten und dadurch Zugang zu den Weibchen bekamen.’“227 Bonobos sind freigiebiger und teilen ihr Futter oft mit anderen, völlig fremden Tieren.
Am auffälligsten finde ich, dass Bonobos ihre Sexualität – Geschlechtsverkehr und Selbstbefriedigung – nicht ausschließlich zur Vermehrung nutzen, sondern auch zur Verbesserung der persönlichen und allgemeinen Stimmung. Bei den Menschen scheint es ähnlich zu sein. Eine große Zahl onaniert mehr oder weniger regelmäßig, und viele tun dies auch in einer festen Beziehung. Vermehrung kann also nicht der einzige Zweck unseres Sexualtriebes sein. In dem Wort „Befriedigung“ steckt „Frieden“ – wenn ich bekommen kann, was ich mir wünsche, bin ich friedlicher, wenn nicht, bin ich aggressiver. Sexualität ist auch bei Menschen ein Mittel zur Beruhigung, zum Aggressionsabbau und zur Festigung des sozialen Friedens.
Weder vor dem Sex noch danach neigen Menschen zu Aggression und Konkurrenzverhalten. Den meisten Menschen ist das nicht bewusst, weil sie ihn nicht in Anwesenheit Dritter praktizieren. Wer erlebt, wenn eine Frau mit mehreren Männern Sex haben will, kann beobachten, dass Aggressionen dann sehr kontraproduktiv sind. Ganz intuitiv sind dann alle Männer um diese Frau bemüht. Es ist kein Platz für Rangkämpfe. Dasselbe Verhalten wurde bei Bonobos beobachtet: Im Angesicht eines paarungsbereiten Weibchens gleichen sich die Testosteronspiegel der Männchen aneinander an.228
Das Potential der Sexualität, das die Bonobos zur Stabilisierung ihrer Gesellschaft nutzen, bleibt bei uns Menschen spätestens seit dem „Sündenfall“, der Entwicklung der Selbsterkenntnis, weitgehend ungenutzt. „Und sie erkannten, dass sie nackt waren.“ Seit wir uns unseres Handelns bewusst geworden sind, können wir Nacktheit und Sexualität nicht mehr unbefangen betrachten, und deshalb wurde beides mit einer Menge Regeln und Tabus belegt. Egal, ob man das gut oder schlecht findet: Es ist davon auszugehen, dass unser Sexualver halten zuvor stärker dem der Bonobos geähnelt hat als heute. Das heißt, dass wir seitdem eine weitere Möglichkeit zum Abbau von Aggressionen verloren haben.
Die sexuelle Revolution der Sechziger und Siebziger Jahre hat zwar einige Freiheiten erkämpft – man muss heute nicht heiraten, um Sex haben zu können, und Frauen wird mehr Initiative und Autonomie zugestanden. Aber solange man mit nackten Frauenkörpern Werbung machen kann, haben wir noch keinen entspannten Umgang mit dem Thema. Könnte jede und jeder Einzelne wirklich ihre oder seine Art von Sexualität ausleben, so würde dies auch unserer Gesellschaft nützen, so wie es die Gemeinschaft der Bonobos befriedet.
Der Unterschied zwischen Bonobos und Schimpansen legt nahe, dass erschwerte Lebensbedingungen, Aggressivität und Patriarchat zusammenhängen. Ist das Leben einfach, so kann es auch friedlich sein, und es entwickelt sich nicht zwangsläufig eine männlich dominierte Führungsstruktur. Wir Menschen haben Eigenschaften von Bonobos und Schimpansen. Wir haben einen relativ hohen Aggressionspegel, wir kennen aber auch den Zusammenhalt der Bonobos, wir leben Konkurrenz genauso wie Kooperation.
Sehr interessant finde ich, dass wir uns seit dem Zweiten Weltkrieg