4. Bubenreuther Literaturwettbewerb 2018. Christoph-Maria Liegener. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Christoph-Maria Liegener
Издательство: Readbox publishing GmbH
Серия:
Жанр произведения: Зарубежные стихи
Год издания: 0
isbn: 9783746992471
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ihr Rad ab und mischt sich unter die Mitschüler. Vera schaut sie abfällig an. Tuschelt mit Yeshi. Yeshi schaut noch verächtlicher. Stinkefinger, denkt sie, doch sie lächelt zu ihnen hinüber.

      Herr Wenner verteilt die Mathe-Klausuren. Die Sechser zuerst, damit alle Bescheid wissen. Unter dem Tisch zupft sie Hautfetzen aus ihrem Nagelbett, bis das Blut aus dem winzigen Loch quillt. Sie holt ein Tempo aus der Tasche und wickelt es um den Finger. Ganz zum Schluss erst legt Herr Wenner das jungfräuliche Papier vor sie auf die Bank. Sie schlägt die letzte Seite auf. Fünfzehn Punkte wiegt sie nun mehr. „Weiter so“, sagt er im Vorübergehen, während sie versucht, den frischen Blutstreifen von der Seite zu wischen.

      Vorsichtig lugt sie in die Brotdose, der Feind lauert überall. Das Brot landet im Papierkorb mitsamt der Fürsorge, die die Mutter darauf gestrichen hat. Die Milch kribbelt in den Adern, jeder Schluck ein Selbstvorwurf. Endlich das befreiende Klingeln.

      „Kommst du jetzt zu meiner Geburtstagsparty?“ Klara ist ihr auf der Treppe entgegengekommen und bleibt kurz stehen.

      „Kann nicht, muss zum Arzt“, schwindelt sie.

      „Schade“, säuselt Klara, zuckt mit den Achseln und stöckelt die Treppe herunter, hinter Youssef her.

      Nie im Leben könnte sie hingehen. Sich begaffen lassen? Sich verstellen müssen? Niemals. Göttin der Feigheit.

      „Wie war es in der Schule“, will die Mutter wissen. „Gut“, lügt sie.

      Die Mutter schaut in die leere Brotdose und lächelt die Krümel an. Bedenkt die Tochter mit einem schmerzlichem Blick.

      Ich will deinen Schmerz nicht, denkt sie.

      „Hab fünfzehn Punkte in Mathe“, sagt sie. Tauscht die Note gegen Anerkennung. Katalysierte Ohnmacht.

      Die Mutter strahlt. „Super! Da bist du ja fast die Beste in der Stufe, oder?“

      Es hat funktioniert. Die Mutter bekommt ein Lächeln geschenkt. Göttin der Lüge.

      Das Zimmer ist ordentlich, wie sie es mag. Alles brav verstaut in den muffigen Kästen und Schränken. In den Relikten der Vergangenheit, den stummen Zeugen von Versprechen und Gehorsam. Sie will sie nicht. Sie gehören ihr nicht.

      Ihr gehören die Musik in den Lautsprechern und die Götter an den Wänden. Ihre Seelenverwandten. Sie schauen zu ihr herab, weihen den Raum. Verbündete im Feindesland. Sehnsüchtig streicht sie über das kalte Papier.

      Sie schließt das Zimmer ab, entkleidet sich und betrachtet sich im Spiegel. Fast perfekt. Sie gleitet über ihre Taille, umfasst sie mit beiden Händen, dass die Fingerspitzen sich beinahe berühren. Ihre Finger fahren die Hüften hinab. Damit ist sie noch nicht ganz zufrieden. Besorgt schaut sie auf die Rundung der Oberschenkel. Noch nicht perfekt genug. Schnell kleidet sie sich wieder an, verhüllt den Makel.

      Es klingelt an der Tür. Die Mutter begrüßt die dunkle Stimme. Es ist er!

      Sie presst die Augen zu, verschließt die Ohren. Nicht zu sehen seine Fleischlichkeit. Nicht zu hören sein grunzendes Lachen, sein Röhren, sein Keuchen. Von damals, als er sie aus der Welt stieß. Als er das Grab öffnete. Nur das eine Mal für die Ewigkeit. „Begrüß doch deinen Onkel, Kleines“, fordert die Mutter von unten.

      Sie setzt sich den Kopfhörer auf und flieht mit ihren Göttern unter die Decke. Zittert im Takt zur Musik. Die Mutter schlägt vergeblich an die Tür.

      Später schleicht sie in die dunkle Küche. Manchmal, wenn die Welt schläft, lockt das leuchtende, kalte Viereck sie in die Verdammnis. Sie steht davor und verschlingt ihre Vorsätze. Mit großen gierigen Bissen verliert sie alles hart Umkämpfte. Alles dahin, alles verloren. Die Kapitulation. Das leuchtende, kalte Viereck hat die Macht übernommen.

      Aber nicht er. Er wird nicht gewinnen. Morgen bin ich wieder stark, weiß sie. Göttin der Disziplin.

      Den Kopf voller Gedanken, den Magen voller Verfehlung sitzt sie in der Küche, als die Tür aufgeht. Er steht im Lichtstreif. Schnell springt sie auf.

      „Kleines!“ Er öffnet die Tür ganz. Der dicke Bauch klafft aus dem Schlafanzug. Stechender Geruch zieht ihm voraus. Fleischlichkeit drängt gegen seine Hose. „Jetzt kannst du deinen Onkel begrüßen, Kleines!“

      Sie dreht sich um, durch die andere Tür zu fliehen. Doch satt drückt seine Pranke in die Wölbung ihres Rückens. Will sie in das Grab schieben.

      Das Messer wiegt schwerer in der Hand, als sie gedacht hätte. Warm tropft das Blut auf ihre Füße, holt sie zurück in die Welt. Die Klinge fällt auf seine schlaffen Glieder.

      Sie schwingt sich auf ihr Rad und saust den Hügel hinunter wie eine Möwe im Sturm. Am Fuße der Straße tritt sie in die Pedale, um die Gegensteigung hinaufzufliegen. Göttin der Freiheit.

       Jürgen Rösch-Brassovan

       Fanschals oder: Was wirklich wichtig ist

      Ein passionierter Auswärtsfahrer war Jakob nicht – im Gegenteil! Seit Ende der 70er hatte er zwar viele Heimspiele seines Lieblingsfußballvereins im Stadion am hannoverschen Maschsee verfolgt – allein neun zu Europa-League-Zeiten von August 2011 bis Februar 2013. Bis dato standen dem aber nur ganze fünf Ligaspiele in der Fremde und eine Reise zum Pokalfinale nach Berlin anno 1992 gegenüber. Aber diesmal musste er mit, statt am TV oder Radio zu sitzen. Es ging zum Nordduell nach Bremen, das war Jakob seinem Freund Micha schuldig, denn dem hatte er letzte Saison für das Leverkusen-Spiel absagen müssen. Werder-Spiele waren zwar nicht gerade sein Fall, zu viele unliebsame Erinnerungen verbanden sich mit dem Club von der Weser. Eines der Spiele in der Fremde war ein 0:5 gegen Bremen; nach gutem Beginn ein absolutes Debakel. Trotzdem, Jakob musste mit!

      Im Zug zischende Biere, mehr oder weniger gelungene Gesänge, dann aussteigen, der Weg zum Stadion … Schön gelegen, das Bremer Stadion, aber Jakob hatte nach wie vor gemischte Gefühle. Die Chronologie des Spiels bestätigte ihn dann. Nach Führung in Rückstand, Ausgleich durch einen Sonntagsschuss, schließlich doch der Siegtreffer für Werder, um den man geradezu gebettelt hatte. Wieder nichts zu holen gegen die Bremer! Wozu war man überhaupt hier? Beim BVB in Dortmund damals immerhin der Ausgleich in letzter Minute, beim Hamburger SV ebenfalls ein 1:1, auch o.k., bei der Hertha in Berlin ein 0:0. In Braunschweig (ein Zweitligaspiel) hatte ihn sein Papa einstmals zum Getränkeholen geschickt. Dadurch hatte er das Siegtor des Gastgebers verpasst, was ja immerhin etwas Tröstliches gehabt hatte

      Seinen roten Fanschal um den Hals gebunden suchte Jakob nun dort in Bremen mit Micha und den anderen das Weite. Missgelaunt, verärgert, frustiert. Da, auf einmal Gerangel, Hektik, Schubsen, Laufen! Plötzlich direkt vor Jakob ein Hindernis! Ein umgestürzter Rollstuhl. Eine Frau, nicht mehr jung, das war aufgrund des Laternenlichtes zu sehen. Er starrte sie an, sie guckte ängstlich zurück. Jakobs Blick fiel auf ihren grün-weißen Werder-Schal … Egal! Es gab Dinge, die man einfach tun musste. Also beugte er sich vor, um ihr zu helfen. Der Rollstuhl war einer von den leichteren, Micha assistierte Jakob, die Frau allerdings war nicht gerade eine Hilfe. Wie eine Ertrinkende hatte sie Jakobs Schal mit beiden Händen gepackt, so dass sie ihn fast strangulierte! Doch es gelang den beiden Männern sie aufzurichten, Jakob ihren grünen Werder-Schal im Blick, die Frau seinen roten Schal im Griff! Schließlich war es geschafft, die Hektik hatte sich auch gelegt. Die Werder-Anhängerin ließ nun endlich auch Jakobs Schal los. Der wiederum hob den ihrigen, der inzwischen zu Boden gefallen war, auf, gab ihn ihr. Ein kurzer Blick, ein geradezu gerührtes Danke, und ab zum Bahnhof, um den Zug nach Hannover zu erwischen …

       Sebastian Nordmann

       »Eugene's«

       USA, Texas

      An einem heißen Montagmorgen, es waren bestimmt schon 26 Grad, lief ich die sandige Hauptstraße entlang. Bald hätte ich den Termin. In diesem gottverdammten Ort gibt es nichts. Nur dieses Diner. Nur Sand. Nur Nichts. Also stand ich vor dem leuchtenden Reklameschild: Pancakes ½ Price. Ich schaute durch die große Glasscheibe, auf den rot-weiß gekachelten Boden, die roten