Es war still geworden bei uns. Tränen der Erleichterung rannen uns beiden über die Wangen. Ich konnte wieder durchatmen und wusste, dass wir unseren Sohn bald in die Arme schließen konnten. Gott sei Dank ….
Als Bernhard nach Hause kam, konnte er die Aufregung um ihn nicht verstehen. Er fragte: „Papa, warum hast dir solche Sorgen gemacht?“ „Das kann ich dir sagen“, erwiderte ich, „wir wissen alle, dass du ein Nachtschwärmer bist und es bei dir sehr spät werden kann. Aber am Morgen warst du immer zu Hause. Dazu kommt, dass wir gestern vorher einen Krach miteinander hatten, von dem wir nicht wussten, wie es dir damit gegangen ist. Wir sind deine Eltern. Als deinem Vater steht es mir zu, dass ich mir Sorgen um dich mache. Wäre ich dein Arbeitgeber, dann könnte es mir egal sein, was du tust und wie es dir geht. So aber wussten deine Mutter und ich überhaupt nichts von dir. Du hättest einen Unfall haben, in einem Krankenhaus liegen können oder sonst irgendetwas. Für uns war dein Wegbleiben nicht erklärbar. Aus dieser Sorge heraus habe ich die Polizei eingeschaltet, um dich zu finden und herauszufinden, wie es dir geht. Zum Glück ist nun der bestmögliche Fall eingetreten, denn, naja, das kann schon einmal passieren, dass man verschläft. Wir freuen uns, dass es dir gut geht.“
Erst jetzt fiel mir auf, das Bernhard bei allem, was ich sagte, immer mit dem Kopf nickte und ständig murmelte: „Ja.“ Dann setzte er hinzu: „Ja, Papa, ich verstehe dich. Danke.“
„Was mich noch bedrängt“, fuhr ich fort, „wie geht es dir mit unserem gestrigen Konflikt? – Ich will, dass du unsere Sorge bezüglich Corona verstehst. Dir wird wahrscheinlich nicht viel passieren, aber wir, deine Eltern, sind einem hohen Risiko ausgesetzt. Daher sind wir darauf angewiesen, dass du uns schützt und bei deinen Treffen mit Freunden Abstand hältst Das ist der Grund, warum deine Mutter und ich wollen, dass du auf einem guten Informationsstand bist.“ „Ah, so seht ihr das“, antwortete Bernhard, „ja, das verstehe ich, und ich werde es berücksichtigen. Das ist sicher etwas, das ich bis jetzt nicht genug bedacht habe.“ Meine Frau schaltete sich nun ein mit einem sehr praktischen Gedanken: „Es wäre hilfreich, wenn du mir bei einigen Dingen im Garten, aber auch im Haus hilfst. Es steht zum Beispiel das Ausmalen deines Zimmers an. Willst du mir helfen?“ „Ja, gern“, erwiderte Bernhard, „ich bin froh, wenn ich etwas zu tun habe, und eure Sorge bewegt mich. Danke!“
Tagebucheintragung 27.03.2020
Zwei Tage habe ich seit dem letzten Mal das Einräumen, oder besser gesagt das Zurückräumen, vor mir hergeschoben. Warum? Das ist einfach erklärt. Ich habe mein Arbeitszimmer weitgehend ausgeräumt, alles in zwei Bananenkartons gepackt und im Nebenzimmer zwischengelagert. Aber nicht mehr.
Ich stehe nun vor dem Einräumen meines Büros, bin aber noch unentschieden, was ich wegwerfen, was ich behalten oder was ich überhaupt woanders hinbringen soll. Nur Eines ist mir klar. Ich will die Dinge, die ich ausgeräumt habe, nicht wieder wie vorher in mein Büro an denselben Platz zurückstellen.
So frage ich meine Frau: „Sag, hast du eine Idee, was ich machen kann, um alle meine Sachen auszusortieren und neu einzuordnen? Ich will sie nicht nur abstauben und dann wieder in mein Zimmer zurückstellen.“ - „Was brauchst du?“, fragt meine Frau. „Na, ja“, antworte ich, „ich stehe vor einem Berg und habe keine Ahnung, wie ich ihn um- oder abbauen kann. Geschweige denn, was ich wegwerfen soll?“ Meine Frau ist sehr praktisch veranlagt. Sie sieht sich meinen Problemberg an und stellt fest: „Hier hast du einen Stoß von Papieren und Ordnern. Wie lange hast du den nicht mehr in der Hand gehabt? Brauchst du irgendetwas davon jetzt?“ Ich zucke etwas hilflos meine Schultern. „Ich weiß nicht so genau. Eigentlich ist mir bis dato nichts abgegangen. Mindestens zwei Jahre, eher mehr, habe ich die Papiere nicht mehr in der Hand gehabt.“ „Naja“, meint sie, „dann würde ich alles, was du seit einem Jahr nicht gebraucht hast, wegwerfen.“ In irgendeinem Buch über „Ordnung halten“ habe ich schon von so einer Empfehlung gehört. Jetzt scheint mir der Vorschlag einfach zu radikal, und ich bedanke mich bei meiner Frau. Sie schaut mich an und setzt hinzu: „Nicht einfach. Aber vielleicht sind es mehr die Erinnerungen, die dich festhalten. Blättere doch einmal in deinen Papieren. Vielleicht hilft dir das? Ein bisschen Erinnerung kann nicht schaden.“ „Danke“, sage ich. Ich finde den Vorschlag vernünftig und entschließe mich, ihn umzusetzen. So packe ich einen Stoß Papier und beginne mit dem Sortieren. Alte bis uralte Rechnungen tauchen auf, ab in die Altpapierschachtel. Der nächste Stoß kommt an die Reihe. Förderansuchen, Drehbücher, Filmbeschreibungen und Pressearbeit. Erinnerungen werden wach, und dennoch, ab in die Schachtel. Der Papierstoß schrumpft zusehends. Ich nehme an, dass sowieso nichts Neues daherkommen wird und werfe entschlossen den ganzen Stoß weg. Die Papierschachtel, in die ich das ganze Zeug hineingeworfen habe, bringe ich zum Altpapiercontainer und kippe den Inhalt hinein. Etwas Erstaunliches ist mir gelungen. Plötzlich habe ich Platz gewonnen.
Ich informiere meine Frau über meinen Erfolg. „Mit dem ersten Schritt bin ich fertig, ich habe zirka einen halben Meter Papierstapel entsorgt. Anfangs war das ziemlich stressig. Ich habe deinen Rat befolgt und die Unterlagen darauf geprüft, wie lange ich sie schon herumliegen hatte. Dabei stellte ich fest, dass erstens viele Dinge schon viel länger als nur ein Jahr dort gelegen waren und zweitens dieser Stapel ziemlich wenig Erinnerungswert beinhaltet hatte. Also habe ich den ganzen Haufen gepackt und entsorgt. Schau, wie viel Platz jetzt freigeworden ist. Danke für deinen Tipp!“ Ein guter Moment für uns beide.
In Bezug auf Aufräumen ist mir meine Frau haushoch überlegen. Während ich meine ersten Schritte in meiner Wegwerfstrategie mache, ist sie seit Tagen damit beschäftigt, ein Zehntausender-Puzzle an Legosteinen zu ihren ursprünglichen Bausätzen zurückzubauen. Die unzähligen Leogosteine waren seit Jahren im Keller in Schachteln aufbewahrt worden. Dort schaut es derzeit aus, als hätte eine Bombe eingeschlagen. Meine Frau und mein Sohn haben die Steine fein säuberlich auseinandersortiert und machen sich nun daran, an Hand der einzelnen Baupläne und der eigenen Phantasie diese Steine wieder zu sinnvollen Gebilden zusammenzubauen. Jetzt ist eine Burg an der Reihe. Fasziniert sehe ich, wie Stein für Stein hinzugefügt wird. Gelegentliche Flüche werden hörbar, wenn der eine oder andere Stein nicht und nicht auffindbar ist. Etwas weiter drüben steht eine Farm, der noch vieles fehlt. Dahinter wächst ein Dinosaurier heran. Bernhard kommt mit einem büffelähnlichen Geschöpf daher. „Dieser Büffel und der Saurier sind aus der Creator-Serie. Wir haben da noch die Bauanleitung.“ Ich sehe ihm an, dass er eine lebendige Erinnerung an frühere Spielerlebnisse hat.
Jetzt wird mir klar, wie viel Geld wir in das kreative Spielzeug investiert haben, um den Kindern eine Freude zu bereiten. Ja, sie haben damit begeistert gespielt. Lego-Feuerwehr, Lego-Bauernhof, Lego-Hubschrauber, Lego ohne Ende. Wenn die Bauwerke fertig sind, fotografiere ich sie, und wir stellen sie auf die Verkaufsplattform „willhaben“. Dann wird alles wieder zerlegt. Fein säuberlich werden die einzelnen Steine in die zugehörigen Kartons gepackt. Die Bauanleitung, sofern noch vorhanden, kommt dazu. Auf „willhaben“ werden gegenwärtig 467.021 Anzeigen in der Rubrik „Spielzeug“ angeboten. Ob da unsere Angebote überhaupt gefunden werden können? Ein Monsterprojekt, das nur in Zeiten wie diesen gelingen kann. Eigenartig, was das Corona-Virus hervorbringt.
Nun ist es Zeit für einen Spaziergang. Ich peile 4.500 Schritte an, die ich mir dann von meiner Health-App in Kilometer und verbrauchte Kalorien umrechnen lasse. Am Ende meiner Runde habe ich 4.179 Schritte gemacht, das sind genau 2,98 km und 89 verbrannte Kalorien. Und zusätzlich habe ich eine ganze Menge von meinem Hörbuch „gelesen“. Derzeit höre ich „Anna Sacher und ihr Hotel. Im Wien der Jahrhundertwende“. Das Hören hat den Vorteil, dass es mich vor dem Grübeln bewahrt. Vielleicht