Die sonst so stimmungsvolle Atmosphäre nahm er nicht wahr, unentwegt schwirrten die Worte und abwertenden Blicke durch seinen Kopf. Wie durch einen Nebel vernahm er Pfarrer Heines Worte:
„… wir spenden nach Afrika, an Flüchtlingsorganisationen, Kinderheime, Ärzte ohne Grenzen, Nachbar in Not, usw. und versuchen damit unser Gewissen zu beruhigen. Was aber ist mit unseren Nächsten? Hilfe in materieller Form ist wichtig. Sehr sogar. Aber sollten wir nicht bei jenen anfangen, die unmittelbar in unserer Nähe sind? Spenden heißt nicht nur in die Geldtasche zu greifen! Spenden heißt auch: Interesse für den anderen zeigen, Respekt, Achtung, ein nettes Wort, eine nette Geste, ein offenes Ohr, fragen, wie es dem anderen geht…“
Und während Pfarrer Heine weitersprach und mahnte, bemerkte Erich, wie die Frau mit zögerlichen Schritten den Abstand zu ihm wieder verringerte. Zum Ende der Messe verließ sie diese eilig mit gesenktem Kopf.
Erich wartete, bis niemand mehr in der Kirche war und hängte noch gut fünfzehn Minuten dran, um sicherzugehen, dass sich auch wirklich niemand mehr im Gebäude oder außerhalb desselben befand. Als er schließlich den Ausgang erreicht hatte, stutzte er. Vor ihm stand die Frau im Pelzmantel und streckte ihm lächelnd die Hand entgegen: „Frohe Weihnachten!“ Erich starrte sie verdutzt an. Dann seine Hände. Unter den Fingernägeln waren schwarze Ränder, die Handflächen bräunlich verfärbt und rau. Er hätte nach dem Besuch in der Pfarre den Friedhof besser nicht mehr aufsuchen sollen! Schnell wollte er seine Hände in den Jackentaschen verschwinden lassen, doch die Frau kam ihm zuvor. Sie packte seine Hand und schüttelte sie eifrig. „Frohe Weihnachten! Darf ich Sie noch auf einen Glühwein einladen? Meine Freunde warten schon da drüben. Bitte sagen Sie Ja!“ Erich blickte zum nahen Glühweinstand und sah mehrere Hände, die ihm entgegenwinkten, und Gesichter, die ihm zulächelten. Die Frau fasste Erichs verblüfften Blick als Zustimmung auf und nahm ihn bei der Hand. „Wie heißen Sie? …“
So standen sie noch die halbe Nacht dort, erzählten und lachten. Bis der Glühwein alle war. Von da an sollte Erich öfter Besuch in der Stadt bekommen. Es war das schönste Weihnachtsgeschenk, das er seit langem bekommen hatte: als Mensch wahrgenommen zu werden!
Weihnachten muss nicht nur am 24. Dezember sein. Wir können es jeden Tag ein kleines Stück leben.
Weihnachtszauber
Es gibt einen Zauber,
ich kanns nicht erklärn,
er ist nicht zu sehn
und auch nicht zu hörn.
Und trotzdem fühl ich
ihn tief in mir drin,
vor allem,
wenn ich ganz andächtig bin.
Dann lächle ich jeden
voll Güte sanft an,
bin fromm und zufrieden,
so gut ich es kann.
Der Schnee glitzert hell,
nicht nur auf den Bäumen,
ich spüre die Wärme,
nicht nur in den Räumen,
sondern mitten im Herz –
ich machs auf ganz weit –
denn dieser Zauber
heißt Weihnachtszeit!
Der gefallene Engel
Es war einmal ein Engel, der nicht länger ein solcher sein wollte. Also flog er zum lieben Gott und sprach: „Hier oben ist mir furchtbar langweilig. Hast du denn keine andere Aufgabe für mich? Auf Erden könnt ich vielen helfen und Gutes bewirken! Kannst du mich nicht hinunterschicken?“
Der liebe Gott dachte nach. „Hmm… Du weißt aber schon, dass ich dich dann in einen Menschen verwandeln muss?“
„Ja, ja, aber das macht mir nichts aus“, erwiderte der Engel mit fester Stimme.
Der liebe Gott überlegte erneut. „Bald ist Weihnachten und ihr Engel habt euer großes Konzert. Deine schöne Stimme würde im Chor sicher fehlen!“
„Ach was“, der Engel schüttelte den Kopf, sodass seine blonden Locken wild tanzten, „meinen Part kann Michael übernehmen!“
Der liebe Gott seufzte tief. Er wusste um die Entschlossenheit des Engels und dass ein weiterer Versuch, ihn umzustimmen, sinnlos war. „Na gut“, sagte er also, „dann soll es geschehen. Wenn du morgen Früh aufwachst, wirst du ein Erdenbürger sein.“
Der Engel wackelte freudig mit den Flügeln und fiel dem lieben Gott um den Hals. Am Abend verabschiedete er sich von all seinen Freunden und kuschelte sich sodann in eine dicke Wolke. Natürlich würden ihm die Englein fehlen, aber er wusste ja, dass er sie eines Tages wiedersehen würde und sie ohnehin gedanklich miteinander verbunden waren. Nachts fand er kaum Schlaf, zu groß war seine Aufregung vor dem morgigen Tag. Welche Aufgabe ihm der liebe Gott wohl zugeteilt hatte und wohin er ihn senden würde? Nach Afghanistan, Syrien, in den Gazastreifen? In ein Entwicklungsland? Zu von Naturgewalten gebeutelten Menschen? Vielleicht ein Waisenhaus oder Pflegeheim. Auch eine Ausspeisung für Obdachlose war möglich… Mit unzähligen Gedanken im Kopf nickte der Engel erst in den frühen Morgenstunden ein, wurde jedoch schon bald wieder von lautem Kindergeschrei aufgeweckt. Er gähnte und rieb sich müde die Augen. Zwei Mädchen im frühen Volksschulalter hüpften auf seinem Bett herum.
„Papa, aufstehn“, riefen sie ungeduldig. „Du hast uns doch versprochen, mit uns heute einen Schneemann zu bauen!“
Der Engel schielte auf den Wecker. Sonntag, sieben Uhr.
„Kommt, Kinder! Euer Kakao ist fertig!“, tönte da eine helle Frauenstimme. Geschirr klapperte. Blitzartig sprangen die Mädchen vom Bett und rannten zu ihrer Mutter in die Küche.
Der Engel sah sich in dem Zimmer um. Ein Kriegs- oder Katastrophengebiet schieden schon mal aus und auch ein von Armut beherrschtes Land war undenkbar. Er kletterte aus dem wohlig warmen Bett und ging zum Fenster. Ein kleiner Garten, auf der anderen Straßenseite schneebedeckte Thujenhecken vor gepflegten Häusern. Eine gut bürgerliche Wohnsiedlung, vermutlich irgendwo in Mitteleuropa. Blieb also nur die Möglichkeit, dass er einen sozialen Beruf hatte. Als sich jedoch herausstellte, dass er ein stinknormaler Familienvater war, der in einem Supermarkt arbeitete, sank seine Stimmung auf den Gefrierpunkt. Er warf einen zornigen Blick zum Himmel und ereiferte sich in allen Flüchen, die sein bescheidenes Engel-Repertoire hergab. Den Tag verbrachte der Engel mit Schneemann-Bauen, Mensch-ärgere-dich-nicht-Spielen, Geschirrspüler-Ausräumen, dem Anbringen einer Lichterkette am Gartenzaun und einer gemeinsamen Adventfeier, bei der seine Töchter ein Flötenstück zum Besten gaben, seine Frau ein paar Weihnachtslieder anstimmte und er selbst eine Geschichte vorlas. Abends fiel er todmüde ins Bett, aber er musste auch zugeben, dass es großen Spaß gemacht hatte. Und die Liebe, die er für seine Familie empfand, war überwältigend.
Am nächsten Morgen stand der Engel zeitig auf, um seine Arbeit im Supermarkt anzutreten. Vor dem überdachten Eingang stand ein riesiger, geschmückter Christbaum und auch im Inneren war alles festlich dekoriert. Im Hintergrund lief leise Musik. Als gelernter Fleischhauer war er in der Feinkostabteilung tätig. Seine Kollegen waren zwar nett, machten jedoch allesamt ein verdrießliches Gesicht. Mit der Kundschaft verhielt es sich nicht anders. Jeder hastete durch das Kaufhaus, war gestresst, genervt, schlechter Laune. Dabei sollte gerade die Vorweihnachtszeit eine besinnliche Zeit sein! Aber wo er auch hinsah: überall gehetzte, finstere, ausdruckslose Mienen. War ein gewünschtes Produkt nicht vorhanden oder wurde es jemandem vor der Nase weggeschnappt, schien Streit vorprogrammiert. Sogar bei ihm vor der Fleischtheke wurde um das letzte Paar Bratwürstchen oder ein besonders schönes Filetstück regelrecht gekämpft.