• Armutsbekämpfung durch politische Organisation
Die politische Geschichtsschreibung hat zahlreiche Belege für Selbstorganisation durch „Betroffene“ nachgewiesen, die ihrer prekären Situation nicht schutzlos ausgesetzt sein wollten und Formen kollektiver Organisation herbeiführten. Der italienische politische Theoretiker Antonio Gramsci spricht in diesem Kontext von „Subalternen“, also der Herrschaft Unterworfenen, die sich durch Zusammenschluss gegen eine vorherrschende Meinung (vgl. Hegemonie) wenden und den Eigenwert ihrer kulturellen Identität gegen eine als repressiv erfahrene Unterordnung behaupten sollen (vgl. kulturelle Hegemonie). Solche Organisationen können lokale Selbsthilfegruppen und Tauschringe sein (s. o.); mit der Industrialisierung geht nicht allein eine grundsätzliche Umformung bisheriger Identitäten einher und werden Bauern zu Landlosen, Tagelöhner zu Arbeitern, sondern auch der Wunsch, die eigene Existenz durch Schutzmaßnahmen vor Vernutzung und Vernichtung zu bewahren. Genossenschaften sorgen für den preiswerten Kauf lebenswichtiger Güter (Ernährung, Kleidung, aber auch Roh- und Hilfsstoffe für kleine Produzenten) (vgl. Genossenschaft). Gewerkschaften tragen gegenüber den industriellen Unternehmern die Forderung nach materieller Teilhabe und sozialen Schutzrechten vor. Schließlich folgen auch politische Parteien, die zu Beginn des bürgerlichen Parlamentarismus im 19. Jahrhundert die politische Partizipation von Arbeitern durch Arbeiter einfordern und die willkürliche Ausgrenzung ganzer Bevölkerungsteile anprangern. Hierzu wird auch ein als diskriminierend erfahrenes staatliches Recht kritisiert, das auf parlamentarischem Wege reformiert werden soll. Der hieraus erwachsene Streit zwischen reformorientierter Sozialdemokratie und revolutionärem, also auf Abschaffung des ungerechten Systems insgesamt zielenden Marxismus ist Auftakt für die Aufspaltung der politischen Arbeiterbewegung bis heute (vgl. Revisionismus). Politische Streiks und andere symbolische Aktionen sollen auf das Elend der Arbeiterklasse aufmerksam machen.
Armut im geschichtlichen Wandel
Die Maslowsche Bedürfnispyramide
1943 veröffentlichte der US-amerikanische Psychologe Abraham Maslow ein Modell, um die menschlichen Motivationen zu beschreiben. Dieses wird als die Maslow’sche Bedürfnispyramide bezeichnet. Die menschlichen Bedürfnisse bilden die „Stufen“ der Pyramide und bauen dieser eindimensionalen Theorie gemäß aufeinander auf. Der Mensch versucht demnach, zuerst die Bedürfnisse der niedrigen Stufen zu befriedigen, bevor die nächsten Stufen Bedeutung erlangen. Wer in einem „niedrigen“ Bedürfnis frustriert wurde, das heißt, es nicht befriedigen konnte, für den wird dieses Bedürfnis übermäßig wichtig werden. Wer zum Beispiel in absoluter Armut lebt und hungrig ist, für den wird das Essen die allergrößte Priorität haben. Alle anderen Bedürfnisse werden in den Hintergrund treten, und sein ganzes Streben wird zwangsläufig darauf ausgerichtet sein, genug zu essen für sein Überleben zu haben. Existentielle Bedrohungen und Defizite (Mangelzustände) bei den essentiellen Bedürfnissen („Defizitbedürfnisse“) prägen – wenn sie lange genug andauern – die ganze Weltsicht. Für einen Menschen, der hungrig ist, wird das Paradies ein Ort sein, wo es immer genug zu essen gibt. Ein Mensch, der in großer Armut aufgewachsen ist, wird sich bereits glücklich schätzen, wenn er nur genug zu essen hat. Für einen Menschen hingegen, der Hunger nie gekannt hat, wird Nahrung keine besondere Bedeutung besitzen. Die Tatsache, dass er genug zu essen hat, erscheint ihm selbstverständlich und wird ihn nicht glücklich machen. Maslows Modell wurde u. a. von Ronald Inglehart weiterentwickelt.
Armut, Reichtum und Wertewandel
Ronald Inglehart stellte die These des Wertewandels auf. Nach Inglehart entwickeln Menschen während ihrer Jugend eine entweder materialistische oder postmaterialistische Einstellung. Seine Theorie besagt, dass bei steigendem Wohlstand einer Gesellschaft der Materialismus (z. B. Neigung zu Sicherheit und Absicherung der Grundversorgung) abnimmt während der Postmaterialismus (z. B. Neigung zu politischer Freiheit, Umweltschutz) zunimmt. Zur statistischen Verifikation der Theorie wurde von Inglehart der sogenannte Inglehart-Index geschaffen. Dieser Index ist jedoch bei Sozialwissenschaftlern methodologisch umstritten. Zudem widerlegen empirische Studien die eindimensionale Entwicklung, die Inglehart vorhersagte (z. B. Klein 95). Nach Inglehart ist die heutige Generation postmaterialistischer als vorangegangene Generationen. Das rühre daher, weil sie in größerem Wohlstand aufgewachsen sei. Materialisten sind in der Regel Personen, die geringe formative Sicherheit (Ingleharts Wort für Armut) erlebt haben. Aus diesem Grund ist ihnen materieller Besitz wichtig. Sie neigen zu konservativen Werten, sind religiös und patriotisch. Das führt Inglehart darauf zurück, dass „absolute Werte“ wie Religion und Patriotismus Halt und Sicherheit bieten. In Armutssituation ist das besonders wichtig. Abtreibungen und Homosexualität werden von ihnen abgelehnt. Postmaterialisten hingegen haben eine hohe formative Sicherheit erlebt. Materieller Besitz ist ihnen nicht wichtig. Stattdessen streben sie nach sozialen Beziehungen, Anerkennung und Selbstverwirklichung. Politisch stehen sie eher links und engagieren sich stark in den „neuen politischen Bewegungen“ wie der Anti-AKW-Bewegung, der Friedensbewegung oder der Umweltschutzbewegung. Inglehart erklärt den Wertewandel in der westlichen Welt (Niedergang von Religiosität und Patriotismus, Aufstieg neuer Werte wie Umweltschutz) dadurch, dass das Ausmaß der absoluten Armut abgenommen habe.
Helmut Klages war vor deutschem Hintergrund der Meinung, dass in Armut aufgewachsene Generationen eher zu Pflicht- und Akzeptanzwerten neigten. Zu den Pflicht- und Akzeptanzwerten zählen zum Beispiel Pflichterfüllung, Fleiß, Selbstlosigkeit und Hinnahme Bereitschaft. In Reichtum aufgewachsene Generationen neigten eher zu Selbstverwirklichungswerten. Dazu zählen z. B. Spontaneität und Selbstverwirklichung.
Quelle: Seite „Armut“. In: Wikipedia, Die freie Enzyklopädie. Bearbeitungsstand: 30. Januar 2020, 11: 34 UTC. URL: https://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Armut&oldid=196333425 (Abgerufen: 31. Januar 2020, 10: 40 UTC)
Arbeitslosigkeit
Unter Arbeitslosigkeit (englisch unemployment, französisch chômage) versteht man in der Volkswirtschaftslehre das Fehlen von erwerbsorientierten Beschäftigungsmöglichkeiten für einen Teil der arbeitsfähigen und beim bestehenden Lohnniveau arbeitsbereiten Arbeitnehmer. Statistisches Pendant sind die offenen Stellen.
Allgemeines
Die Arbeitslosigkeit betrifft den Produktionsfaktor Arbeit, dessen Preis als Lohn bezeichnet wird und sich auf dem Arbeitsmarkt durch Arbeitsangebot und Arbeitsnachfrage bildet. Markttechnisch ausgedrückt ist die Arbeitslosigkeit der Überschuss des Arbeitsangebots über die Arbeitsnachfrage. Arbeitslosigkeit setzt mithin Arbeitsmärkte und zudem eine Arbeitsgesellschaft voraus. Dazu gehören Arbeitskräfte, die ihren Lebensunterhalt nicht über eigene Produktionsmittel (Landflächen, Immobilien, technische Produktionsmittel) bestreiten können, und eine marktwirtschaftliche Gesellschaftsformation. Eine Masse solcher Menschen – das industrielle Proletariat – entstand in der Frühmoderne mit den Bauernbefreiungen, der Bevölkerungsexplosion sowie der industriellen Revolution. Die damit entstandene soziale Frage (Pauperismus) führte ab dem 18. Jahrhundert auch zu ersten Formen staatlicher Straf-, Erziehungs- und Sozialsysteme und schließlich zu Beschäftigungspolitik. Die Lohnarbeiter organisierten sich ihrerseits in der Arbeiterbewegung (Gewerkschaften, Arbeiterparteien, Arbeitervereine, Genossenschaftswesen etc.), um die mit Arbeitslosigkeit und fremdbestimmter Lohnarbeit verbundenen Probleme gemeinsam besser bewältigen zu können.
Die Arbeitslosigkeit ist eines der zentralen Probleme der Wirtschaftspolitik, denn sie muss innerhalb des magischen Vierecks das Ziel eines hohen Beschäftigungsstandes erfüllen. Zum Zwecke der Zielerfüllung ist das vorhandene Arbeitsvolumen mit Hilfe wirtschaftspolitischer Maßnahmen über die gültigen Regelungen zur Arbeitszeit gleichmäßig auf das Erwerbspersonenpotential zu verteilen. Das Ziel gilt solange als verfehlt, solange eine deutliche Unterbeschäftigung oder Überbeschäftigung herrschen. Erst bei Vollbeschäftigung ist das Ziel als erreicht anzusehen, auch wenn es im Rahmen der Vollbeschäftigung noch eine geringfügige Arbeitslosigkeit geben kann. Die Arbeitslosigkeit ist erst im Falle der Markträumung auf dem Arbeitsmarkt vollständig beseitigt.