„Nee, die Stadtverwaltung habe ich vor sieben Jahren verlassen. Gemeinsam mit einem Kollegen habe ich einen Verband für Resozialisation von entlassenen Straftätern in Witten gegründet. Berufsbegleitend studiere ich seit zwei Jahren an der Ruhruni Bochum Kriminologie, Kriminalpolitik und Polizeiwissenschaft. Wenn alles klappt, schließe ich zum Ende des Sommersemesters mit dem Master ab. Die Studiengebühren sind zwar krass, nehme ich aber gern in Kauf.“
„Was? Das ist ja ein Hammer, klasse.“ Karla war beeindruckt. „Hut ab! Na, siehst du, auf Umwegen erfüllst du dir noch deinen Herzenswunsch und den deines alten Professors. Und wie schaffst du das neben dem Job?“, wollte Karla genau wissen.
„Meine wöchentliche Arbeitszeit habe ich auf zwanzig Stunden reduziert. Ansonsten kannst du das bei dem Arbeitspensum, das wir im Verein bewältigen müssen, nicht stemmen.“
„Mein Mann Dirk ist Psychologe und Lehrbeauftragter an der Uni Bochum. Er arbeitet in der JVA Bochum ebenfalls an einem Projekt mit, in dem es um Strafgefangene geht, die kurz vor der Entlassung stehen.“
„Sag nur, das ist spannend. Wir haben bisher mit den Sozialarbeitern der JVA zusammengearbeitet. Meist dann, wenn die Entlassung kurz bevorstand.“
„Das denke ich“, lachte Karla. „Wenn du zurück bist, kannst du mit Dirk Kontakt aufnehmen und schauen, wie sich eine Zusammenarbeit organisieren lässt.“
„Oh ja, das ist eine gute Idee.“
„Und wie geht es weiter, wenn du den Master hast?“, fragte Karla.
„Keine Ahnung, einen Schritt nach dem anderen. Meinen Doktor vielleicht?“
„Genauso kenne ich dich, du hattest immer Power bis zum Abwinken. Das ist der beste Weg zum Gesundwerden.“
„Na ja, schauen wir mal, wie sich alles weiterentwickelt. Und du? Arbeitest du noch bei der Kripo?“
„Na klar, ich bin bei der Mordkommission gelandet. Dort bleibe ich bis zur Pensionierung, da kannst du Gift drauf nehmen.“
„Machst du Urlaub oder bist du dienstlich hier?“
„Meine Familie und Freunde haben mir zum Fünfzigsten den Urlaub geschenkt und die Kollegen haben mich mit Malutensilien beglückt. Ich plane nichts, lasse mich treiben, bin kreativ … Alles, was mir guttut, mache ich jetzt und gleich sehr viel davon.“
„Herzlichen Glückwunsch nachträglich! Nach fünfzig siehst du nicht aus, immer noch die sportliche, fitte Karla.“
„Danke.“
„Ich werde auch noch in diesem Jahr fünfzig, wir sind doch ein Jahrgang“, erinnerte Inge sie.
„Genau.“
Karla nahm einen Schluck vom köstlichen Cappuccino. Sie genoss die Friesentorte und ließ die Föhrer Leckerei auf der Zunge zergehen.
„Ich muss los.“ Inge schaute auf die Uhr und sprang auf. „Der Bus fährt gleich zurück zur Klinik. Ich muss noch zur Powergymnastik.“
„Kann ich dich mitnehmen? Meine Ferienwohnung ist in Utersum.“
„Nee, komm du erst mal an, wir sehen uns. Wenn du magst, können wir was verabreden.“
„Klar, lass uns die Handynummern austauschen“, schlug Karla vor.
„Ach, schau mal. Hier habe ich das Veranstaltungsprogramm für April für dich, in der Klinik liegen genug aus. Dann weißt du, was auf der Insel angeboten wird. Im Föhrer Kunstmuseum läuft eine tolle Ausstellung und im Dörpshus in Nieblum ebenfalls. Die Vernissage im Museum war leider schon und morgen Nachmittag wird die Ausstellung in Nieblum eröffnet. Zwei Wittener Künstlerinnen stellen im Dörpshus aus und sind auch bei der Museumsausstellung dabei.“
„Ach ja, wer?“
„Violetta Fey und Lena Beck“, antwortete Inge.
„Nee, das glaube ich nicht. Die beiden haben den ersten und zweiten Kunstpreis aus der Jürgen-Grume-Stifung in Witten gewonnen.“
„Genau, stimmt. Leider habe ich die Preisverleihung im Märkischen Museum verpasst. Da war ich schon hier auf Föhr“, erzählte Inge.
„Und ich habe es in der Presse gelesen, hatte aber keine Zeit hinzugehen.“
„Eine Freundin hat mir berichtet, dass es unter den Bewerbern für den Preis Zoff gegeben haben soll. Den Gewinnerinnen gönnte man den Preis nicht und es wurde schmutzige Wäsche gewaschen. Vor allen Dingen haben die männlichen Künstler interveniert. Auch Kunstkritiker haben mitgemischt.“
„Neider gibt es viele unter den Künstlern.“
„Na gut, wenn du von der Kunst leben musst, geht es oft ums nackte Überleben!“
„Das ist richtig, doch deshalb muss man sich keinen Schlagabtausch in der Öffentlichkeit und in den sozialen Netzwerken liefern“, regte sich Karla auf.
„Stimmt“, pflichtete ihr Inge bei, „Violetta und Lena stellen jedes Jahr im Dörpshus aus. In diesem Jahr wurden sie auch für die Museumsausstellung ausgewählt.“
„Erstklassig, das haben sie verdient. Danke für die Infos, Inge. Hast du Lust, morgen Nachmittag mit mir in Nieblum die Vernissage zu besuchen?“
„Klar, gern.“
„Wann ist die Eröffnung?“
„Um fünfzehn Uhr. Sie wurde wegen der Osterfeiertage auf den Nachmittag verlegt, sonst findet sie immer abends statt.“
„Ich stehe pünktlich um halb drei vor der Klinik und hole dich ab.“
„Du kannst auch in der Cafeteria der Klinik auf mich warten.“
„Ich finde dich, Inge, da kannst du sicher sein. Und außerdem habe ich deine Handynummer.“
„Jetzt muss ich los, tschüss, wir sehen uns“, rief Inge und rannte im Affentempo in Richtung Bushaltestelle.
Karla lehnte sich entspannt zurück, blätterte im Veranstaltungskalender und verspeiste die restliche Torte. Die Beine ausgestreckt mit dem Gesicht zur Sonne, sog sie die klare Seeluft ein.
„Hallo Ruhrpottkollegin! Huar komst dü dach faan daan2?“
„Ach nee, Piet Dirksen! Die gesamte Inselpolitsei3!“, scherzte Karla. „Komm du mir mit Fering um die Ecke. Du weißt doch, dass ich der nordfriesischen Sprache nicht mächtig bin. Ich komme geradewegs aus Bochum!“
„Hü gunngt di det4?“
„Gut, siehste doch.“
Piet strahlte Karla an und sagte: „Tu doch nicht so, du verstehst Fering gut. Nix los in der Großstadt? Da musst du nach Föhr kommen, um dir Arbeit zu suchen, oder machst du hier Urlaub?“ Piet grinste über das ganze Gesicht. Der friesische Polizeihauptkommissar stellte das Fahrrad ab und fläzte sich auf den Stuhl neben ihr. Die Mütze nahm er ab. Piets strubbelige rote Haare leuchteten in der Sonne.
„Jau Piet, ich mache Urlaub, und zwar allein, ohne Dirk. Vier Wochen auf Föhr. Ein Geburtstagsgeschenk von Familie, Freunden und Kollegen.“
„Du hattest Geburtstag? Wie alt bist du denn geworden? Fiartig5?“
„Du alter Schmeichler, Föftig6“, antwortete Karla in Fering.„Nicht mehr lange bis zur Pensionierung.“
„Mann, Mann, Mann, dann bist du ja auch kein junges Täubchen mehr“, neckte sie Piet. „Mensch, darauf müssen wir einen trinken.“
„Das machen wir Piet, nur nicht jetzt und heute. Ich muss noch fahren. Wenn mich die Inselpolitsei betrunken erwischt, bin ich dran …“
„Oha,