Er sah nämlich aus wie Legolas aus Herr der Ringe. Nicht nur ein bisschen. Sondern beinahe wie eine perfekte Kopie.
Dachte ich zumindest in meiner mädchenhaften Beeindruckbarkeit.
Zwar gehe ich jetzt davon aus, dass ihr alle wisst, um wen es sich bei Legolas handelt, da es in meinen Augen schon beinahe eine Frevelei darstellt, Herr der Ringe weder gelesen noch in der großartigen Verfilmung von Peter Jackson gesehen zu haben – aber gnädigerweise schildere ich diesen glanzvollen Charakter noch einmal für die Ahnungslosen unter euch:
Legolas gehört zum Volk der Elben, was bedeutet, dass er nicht nur wirklich hübsch ist, auf eine männliche Art natürlich, sondern dass er auch seine Emotionen völlig unter Kontrolle hat.
Sein Handeln ist von vornehmer Zurückhaltung geprägt, aber dennoch ist er ein ausgezeichneter Kämpfer ohne Todesfurcht.
Ihr seht, sogar jetzt noch schwingt eine gewisse Schwärmerei in meinen Worten mit. Obwohl längst mein wunderbarer, ätzender Zynismus alle zarteren Gefühle in mir weggebrannt haben sollte.
Keine Ahnung, ob Finn von vornehmer Zurückhaltung war - es sollte sich herausstellen, eher nicht -, aber er hatte lange, hellblonde Haare, die er zusammengebunden auf dem Rücken trug, und er hatte die feinsten Gesichtszüge und schönsten Augen, die ich je an einem Jungen gesehen hatte.
Spätestens bei diesem Gedanken fühlte ich mein Gesicht leuchten wie ein Kaminfeuer.
Zum Glück war Finn da schon längst an mir vorbei, in seinen engen, schwarzen Jeans, dem schwarzen T-Shirt mit dem Aufdruck einer Band, die ich nicht kannte und dem löchrigen schwarzen Rucksack mit den vielen Aufnähern.
Kurz danach kam sein Vater mit einem riesigen Koffer. Ich erkannte sofort, dass es sich dabei um seinen Vater handelte, weil er erstens die gleichen blonden Haare hatte und zweitens brüllte: „Finn, du hast deinen Koffer vergessen!“ Woraufhin sich Finn umdrehte und nur mit den Schultern zuckte.
Jetzt kannte ich seinen Namen. Finn. Das klang sogar vage nach einem Elben. Was hatte ich damals noch für eine dermaßen verträumte Fantasie. Eigentlich schade, dass ich irgendwann daraus aufgewacht bin. Oder ein Segen.
Das dürft dann ihr später entscheiden. Obwohl ich selbstverständlich einen Scheiß auf eure Meinung gebe.
Jedenfalls war dieser kurze Moment, in dem ich auf Legolas traf und mein Elend für einen Sekundenbruchteil darüber vergaß, vorbei.
Die Leiterin der Freizeit klatschte fröhlich in die Hände und rief uns zum Aufbruch zusammen.
Wir sollten sie Brigitte nennen, teilte sie uns in einer lauten Kindergärtnerinnen-Stimme mit, und sie freue sich schon so riesig darauf, mit uns ein paar wundervolle Wochen im wunderschönen Norwegen zu verbringen.
Ich glaubte ihr das sogar. Oder anders: Ich glaubte ihr, dass sie es selbst glaubte.
Sie strahlte den totalen Willen aus, ein absolut guter Mensch zu sein. Offensichtlich war sie Christin.
Naheliegend, bei einer Organisation der evangelischen Kirche.
Ich konnte fröhliche Christen nicht ausstehen. Ich mochte es hingegen, wenn sie unter ihrer Erbschuld litten, wenn sie sich mit Sühne und Strafe auseinandersetzten und sich selbst für ihr verderbtes Fleisch bestraften. Diese leidenschaftliche Opferbereitschaft besaß eine würdevolle Aufrichtigkeit, die ich respektierte.
Die Wir-lieben-alle-Christen andererseits konnte ich nicht wirklich ernst nehmen.
Versucht es einfach mal und schlagt einen Christen ins Gesicht. Ich gebe euch hundert Euro, falls er euch die andere Wange hinhält.
Und das ist nur eine Metapher dafür, dass ihre Nächstenliebe nur soweit reicht, solange sie ihr eigenes Ego wärmt.
Das galt mit Sicherheit auch für die muntere Brigitte. Aber weil ihr die Fähigkeit zur Introspektion fehlte, wie den meisten menschlichen Kreaturen, glaubte sie von sich selbst fest, eine mitfühlende Christin zu sein.
Das sah ich an ihrem weit aufgerissenen Lächeln, das feuchtes Zahnfleisch entblößte, an den Falten auf ihrer Stirn, die unterdrückten Ärger verrieten, an ihrer schwarz gefärbten Kurzhaarfrisur, welche frische Jugendhaftigkeit verleihen sollte und an ihren pinken Shorts.
Ich tippte auf Anfang 40, früh ergraut aufgrund verleugneter psychischer Probleme, gelangweilt verheiratet mit einem anderen Christen und kinderlos, sonst würde sie sich das hier nicht antun.
Damit wusste ich alles über sie, was ich wissen musste.
Ich würde sie dennoch als Leiterin respektieren müssen.
Und ich durfte Leute nicht auf ihre Defizite ansprechen, das hatte man mir inzwischen beigebracht. Ich verstand zwar immer noch nicht wirklich warum; nur durch das aufmerksam werden auf Mängel konnten diese behoben werden. Aber ich passte mich an.
Ich würde Brigitte nicht erklären, dass sie deswegen Christin war, weil ihr die Kirchengemeinde Raum bot, sich als sozial engagiert zu beweisen, ohne wirklich daran arbeiten zu müssen, ein besserer Mensch zu werden.
Dafür würde sie mich hoffentlich ebenfalls in Ruhe lassen.
Als ich aber an der Reihe war, ihr die Hand zu schütteln und mich vorzustellen, bevor ich in das stählerne Monstrum steigen würde, das bereit war mich in die Hölle zu entführen, erkannte ich sofort, dass sie mir mit Sicherheit nicht meinen Frieden gönnen würde.
Ich erkannte es an dem prüfenden Blick ihrer ungeschminkten Augen und dem viel zu kräftigen Händedruck. Sie hoffte nicht nur darauf, dass ich mich als lohnendes Projekt ihrer mütterlichen Fürsorge erweisen würde. Sie wollte mit aller Macht Gutes an mir tun!
Mir lief es sprichwörtlich kalt den Rücken herunter.
Das hier würde alles noch viel, viel schlimmer werden, als ich es mir ausgemalt hatte.
Ich nahm meine gesamte Konzentration zusammen, um nicht meinen Ekel zu zeigen, sondern eines meiner Standard-Lächeln zu produzieren, das süße Harmlosigkeit als Botschaft hatte. Dieses hatte sich bisher am besten bewährt, um in meinem Gegenüber jede Skepsis auszuräumen und im besten Fall auch jedes Interesse.
In letzter Zeit funktionierte es aber nicht mehr so fehlerfrei wie noch vor ein, zwei Jahren, denn Vertreter des männlichen Geschlechts wurde ich dadurch kaum noch los. Ich hatte mir bereits vorgenommen zu analysieren, woran das lag und dann Korrekturmaßnahmen einzuleiten.
Die flotte Brigitte war zwar augenscheinlich weiblich, reagierte aber dennoch nicht wie gewünscht.
Später sollte ich herausfinden, dass meine Eltern bereits im Vorfeld ein Gespräch mit ihr geführt und mich als schwierigen Fall geschildert hatten.
Was ihren Jagdinstinkt geweckt und mich ins Visier ihres Helferzwangs gerückt hatte. Danke, Eltern. Ihr hattet es echt drauf, beschissene Situationen für mich noch beschissener zu machen.
„Wie schön, dass wir dich dabeihaben, Lily!“, behauptete Brigitte, während sie versuchte, mir die Hand zu zerquetschen. Ich habe nie verstanden, was daran höflich sein sollte, verschwitzte und verkeimte Gliedmaßen zur Begrüßung aneinanderzudrücken.
Wahrscheinlich ein primitives Überbleibsel aus unserer Primatenzeit.
Elben nickten sich leicht aus der Ferne zu, wenn sie Hallo sagen wollten. Das würde mir ebenfalls mehr als genügen.
Und was wollte sie jetzt als Antwort auf diesen dämlichen Satz?
„Ich nehme deine Freude mit Skepsis zur Kenntnis.“ Wäre meine höflichste Antwort gewesen. Aber selbst das würde eher für Verwirrung sorgen. Also, wie immer: lächeln und nicken.
Offensichtlich wurde Schüchternheit eher akzeptiert als Ehrlichkeit.
Beinahe erleichtert entfloh ich Brigittes Händen und Augen die engen Stufen hinauf in das Innere des Busses.
Erst da wurde mir bewusst, dass ich es versäumt hatte, mich von meiner Mutter zu verabschieden.